Malle Mathematik verstehen 7, Schulbuch

115 Exaktifizierung der Differentialrechnung 5.4 Historisches zur Differentialrechnung Im 19. Jahrhundert waren die Methoden der Differentialrechnung im Großen und Ganzen ent- wickelt. Die Begründungen waren jedoch man- gelhaft, weshalb man sich verstärkt einer exakte- ren Grundlegung der Differentialrechnung zu- wandte. Ein Charakteristikum war dabei, dass man sich von der geometrischen Anschauung lö- sen und die Begriffe der Differentialrechnung allein auf der Grundlage der reellen Zahlen auf- bauen wollte. Grundlegende Ideen gehen auf Augustin Louis CAUCHY (1789 – 1857) zurück. Seine Grenzwert­ definition sieht aus heutiger Sicht zwar umständ- lich aus, enthält aber schon das Wesentliche: „Wenn die einer Veränderlichen nach und nach beigelegten Werte sich einem gegebenen Wert mehr und mehr nähern, so dass in dieser Reihe schließlich Werte existieren, die von jenem gege­ benen Wert so wenig, wie man will, verschieden sind, so nennt man den gegebenen Wert die Gren­ ze jener übrigen Werte …“ [Cauchy, A.L.: Cours d’Analyse de l’Ecole Polytechnique. De Bure, Paris 1821] Die Ableitung beschreibt Cauchy folgenderma- ßen. Er lässt zunächst im Differenzenquotien- ten ​  Δ y _Δ x ​= ​  f(x + i) _  i  ​die Zahl i gegen 0 streben und stellt fest, dass dabei sowohl der Zähler als auch der Nenner des Bruchs gegen 0 strebt. Dann sagt er: „Aber während sich diese beiden Glieder unbe­ stimmt und gleichzeitig der Grenze null nähern, wird ihr Verhältnis selbst gegen eine andere Gren­ ze, sie sei positiv oder negativ, konvergieren kön­ nen … Diese Grenze, oder dieses letzte Verhältnis, hat, wenn es existiert, für jeden speziellenWert von x einen bestimmten Wert; aber es variiert mit x … Um diese Abhängigkeit auszudrücken, gibt man der neuen Funktion den Namen abgeleitete (deri­ vierte) Funktion, und bezeichnet sie mittels eines Akzentes mit y’ oder f’(x).“ [Cauchy, A.L.: Resume des lecons donnees a l’Ecole Polytechnique sur le calcul infinetisimal. De Bure, Paris 1823] Die Stetigkeit definiert Cauchy im Wesentlichen durch die Gleichung ​ lim    α¥ 0​ ​f(x + α ) = f(x). Mit Hilfe des Stetigkeitsbgegriffs wurden grund- legende Sätze über reelle Funktionen genauer formuliert und bewiesen. So bewies Bernard BOLZANO (1781 –1848) den Zwischenwertsatz in seiner berühmten Arbeit „Rein analytischer Be- weis, daß zwischen zwey Werthen, die ein entge- gengesetztes Resultat gewähren, wenigstens ei- ne reelle Wurzel der Gleichung liege“. Dabei ging es nicht darum, jemanden von der Richtigkeit die- ses Satzes zu überzeugen (an der Richtigkeit zweifelte ja niemand), sondern zu zeigen, dass man diesen Satz ohne Benutzung der Anschau- ung, allein auf der Grundlage der reellen Zahlen begründen kann. Während die Differentialrechnung früher haupt- sächlich als Hilfsmittel für die Mechanik und Ast- ronomie angesehen wurde, wurde sie im 19. Jahr- hundert (wohl durch die exaktere Fundierung) zu einer eigenständigen mathematischen Disziplin, die in eine umfassendere Disziplin eingebettet wurde, die man heute „Analysis“ nennt. Augustin Louis CAUCHY (1789 –1857) Bernard BOLZANO (1781 –1848) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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