Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]
33 […] Wandel des Menschenbildes von einem Soziologismus hin zu den Bio- und Neurowissenschaften, zur Hirnforschung als Leitwissenschaft. Man betrachtet inzwischen die Resultate der Verhaltensgenetik und der Verhaltensökologie mit weniger Vorurteilen als bisher, und Bücher wie „Ist Erziehung sinnlos?“ von Judith Rich Harris werden zu Bestsellern. […] Freilich stehen diese Entwicklungen erst am Anfang. […] Dabei steht die Frage im Vordergrund, wer oder was in unserem Gehirn (wie auch im Gehirn uns nahe stehender Tiere) unser Verhalten steuert […]. Gerhard Roth: Fühlen, Denken, Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert (3. Aufl. 2002), S. 17. Der Biologe Gerhard Roth ist ein prominenter Vertreter der aktuellen Gehirnforschung. Für ihn ist die Wirklichkeit eine Konstruktion dessen, was er reales Gehirn nennt. Für Menschen zugänglich sei nur die von diesem realen Gehirn konstruierte Wirklichkeit einschließlich unserer Vorstellungen vom Gehirn (Roth spricht von wirklichem Gehirn ), das reale Gehirn hingegen nicht. Roth geht von einer umfassenden Determiniertheit unserer gesamten Wirklichkeit durch das reale Gehirn aus, das seinerseits offenbar durch biologisch-neuronale Gegebenheiten determiniert gedacht wird. So hoch die Hirnforschung heute im Kurs wissenschaftlicher Forschung und ihrer populärwissenschaftlichen Nachahmer/innen steht, so wenig darf doch übersehen werden, dass sich die Erforschung des Gehirns von jeher zum Politikum geeignet hat. Im 19. Jahrhundert vermaßen Wissenschafter im Dienste kolonialer Ideologien Schädel und analysierten Gehirnstrukturen mit dem Ziel nachzuweisen, dass europäi- sche Schädel und Gehirne allen anderen überlegen seien. Die Gehirne von Frauen wurden lange Zeit als mangelhaft eingestuft. Diese alten Diskussionen setzen sich in heutigen Intelligenzdiskussionen geringfügig abgewandelt immer noch fort. So behauptet beispielsweise der vorhin erwähnte Hirnforscher Gerhard Roth, dass Buben mathematisch und musikalisch besser talentiert seien als Mädchen, und begründet dies mit Hinweisen auf angebliche generelle Unterschiede in der Gehirnstruktur. Auch wenn wir heute tatsächlich weit mehr als früher über das menschliche Gehirn zu wissen scheinen, sollte doch nicht übersehen werden, dass wir längst nicht alles wissen, was es zu wissen gibt – und dass das Themenfeld Gehirn immer für politischen Missbrauch gut ist. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Fassen Sie Ihre eigenen Kenntnisse – z. B. aus dem Biologieunterricht, aus eigenen Lektüren oder Fernsehdokus – zum Thema Gehirn zusammen. Welche Vorstellungen halten Sie für zentral? Notieren Sie Ihre Überlegungen! Geben Sie Roths Unterscheidung von realem und wirklichem Gehirn mit eigenen Worten wieder! Diskutieren Sie gemeinsam, ob es möglich ist, von Gehirnstrukturen auf die Persönlich keit zu schließen! AuSfüHrunG VErtiEfunG úú Kapitel 2 2 3 4 t Eine kurze Einführung Eine kurze Einführung 1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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