Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]

152 Kinder zu stärken und sie für das Erwachsenenleben abzuhärten . In pädagogischen Schriften des 18. und 19. Jahrhunderts war durchaus auch von Abrichtung zu lesen. Vielleicht haben die Erfahrungen zweier Weltkriege in Teilen Europas und in Nordame- rika dazu beigetragen, dass die genannten Erziehungskonzepte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend in Verruf kamen und schließlich geradezu als vollständig verfehlte Erziehungsmodelle verabschiedet wurden. In den 1950er- und 1960er-Jahren etablierten sich erste Formen von Jugendkultur. Sie entstanden durch- aus auch im Rahmen eines umfassenden Protests gegen weitere Kriege (in Korea, Vietnam) und die Zumutung, dass junge Menschen sich dabei als gehorsame Soldaten abschlachten lassen sollten. Junge Frauen kämpften zudem um ihr Recht auf eigen- ständige Lebensentwürfe. Die bisherigen Erziehungsmodelle hatten Mädchen ja ausschließlich die Rolle künftiger Ehefrauen zugedacht. Das Empfinden und Wollen von Kindern und Jugendlichen wurde nun nicht mehr länger von vornherein abgewertet oder als etwas betrachtet, das es mittels strenger Maßnahmen zu überwinden gälte. Psychologinnen/Psychologen und Psychotherapeu- tinnen/-therapeuten erkannten zudem die traumatisierende Wirkung repressiver Erziehungsmethoden. Viele, wie etwa Carl Rogers, auf den die personenzentrierte Gesprächstherapie zurückgeht, forderten, dass Wertschätzung das bestimmende Merkmal in der Beziehung von Erziehungsberechtigten gegenüber Kindern zu sein habe. Das Konzept einer antiautoritären Erziehung war auf den Weg gebracht. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Bilden Sie Kleingruppen und beantworten Sie die Frage, was Erziehung leisten kann und was nicht! Begründen Sie Ihre Positionen! Die Anpassung an elterliche Bedürfnisse führt oft (aber nicht immer) zur Entwick- lung der „Als-ob-Persönlichkeit“ oder dessen, was [der Kinderarzt] D. Winnicott als „falsches Selbst“ beschrieben hat. Der Mensch entwickelt eine Haltung, in der er nicht nur das zeigt, was von ihm gewünscht wird, sondern so mit dem Gezeigten verschmilzt, daß man – bis zur Analyse [gemeint ist Psychoanalyse] – kaum ahnen würde, wieviel Anderes hinter dem „maskierten Selbstverständnis“ […] noch in ihm ist. Das wahre Selbst kann sich nicht entwickeln und differenzieren, weil es nicht gelebt werden kann. Alice Miller: Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst (26. Aufl. 2010), S. 29. Die Psychotherapeutin und Autorin Alice Miller stand der Idee von Erziehung generell skeptisch gegenüber. Ihrer Auffassung nach weist jede Form von Erziehung die Tendenz zu Unterdrückung oder zumindest Manipulation auf. Dies mag auch mit dem Umstand zu tun haben, dass alltägliche Vorstellungen von Erziehung die Traditionen von Jahrhunderten keineswegs vollständig überwunden haben. Die Bilder davon, wie sich Eltern ihren Kindern gegenüber verhalten sollen, sitzen tiefer als pädagogische Konzepte von antiautoritärer Erziehung. Hinzu kommt, dass ja durchaus auch kindli- che Bedürfnisse nach gewissen Regeln und Grenzziehungen bestehen. Insofern erweist sich Erziehung stets als schwierige Gratwanderung. 1 r AuSFüHrunG maskiertes Selbstverständnis eine vom Philosophen Jürgen Habermas geprägte Formulierung Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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