Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]

148 Ein allgemeines Prinzip des strukturellen Interviews mit psychotischen Patienten ist dies: Wenn sich durch Klärung und taktvolle Konfrontation der Verlust der Realitätsprüfung bestätigt hat, dann stehen die Denkprozesse, die Realitätsverzer- rung und die innere Erfahrung des Patienten nicht länger zur Debatte. Im Gegen- teil, man sollte sich nun bemühen, sich so weit wie möglich in die innere Realität des Patienten einzufühlen, um das Verständnis der psychotischen Prozesse selbst zu vertiefen. Otto Kernberg: Schwere Persönlichkeitsstörungen (7. Aufl. 2006), S. 73 f. Der Psychiater und Psychoanalytiker Otto Kernberg beschreibt hier eine Facette der von ihm entwickelten Diagnosemethode. Für unsere Zwecke ist daran wichtig zu sehen, dass Psychiater/innen und Psychotherapeutinnen/-therapeuten heute nicht mehr versuchen, Menschen mit Wahnvorstellungen über deren Vorhandensein zu belehren oder sonstige, weiter traumatisierende Therapiemaßnahmen anzuwenden. Häufig versucht man mittels medikamentöser Behandlung und Gesprächstherapien, den Betroffenen Hilfestellungen zur Leidensbewältigung zu geben und den Wahn unter Kontrolle zu bringen. Anhand der narzisstischen Persönlichkeitsstörung wird vielleicht besonders deutlich, dass die Klassifizierung eines Verhaltens als Persönlichkeitsstörung durchaus von soziokulturellen Normen und Setzungen abhängt. Unter Narzissmus wird eine Persönlichkeitsstörung verstanden, in deren Zentrum eine hochgradig übersteigerte Einschätzung der eigenen Person sowie ein entsprechendes Streben nach Anerken- nung steht. Freud hat zwischen primärem und sekundärem Narzissmus unterschie- den. Während der kindlichen Entwicklung sei Narzissmus ein notwendiges Übergangs- stadium zwischen Autoerotismus und Objektliebe. Beim sekundären Narzissmus, nach Freud eine Fehlentwicklung, wird die Libido später doch wieder von anderen Objekten abgezogen und dem Ich zugewandt. Im heutigen psychiatrischen Verständnis gilt eine narzisstische Persönlichkeitsstörung als gegeben, wenn Personen ihr Selbst kon- tinuierlich übersteigern und weiter ausbauen. Auf andere wirken sie oft herablassend, aber auch als leistungs- und willensstark, weil sie ständig nach Anerkennung und Bestätigung ihres Selbstbildes streben. Das häufige Fehlen von Empathie erlaubt es ihnen zudem, harte Entscheidungen zu treffen, die beispielsweise für Unternehmen durchaus ökonomische Vorteile bringen können. Aus diesem Grund werden Verhal- tensweisen, die dem Bild einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung entsprechen, in Politik und Wirtschaft oft als Kennzeichen einer dynamischen und erfolgreichen Persönlichkeit gewertet. Dies führt mitunter dazu, dass gerade solche Personen für Führungspositionen ausgewählt werden. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Überlegen Sie, was Sie selbst unter dem Begriff Wahn verstehen! Notieren Sie Ihre Ergebnisse! Bilden Sie Gruppen und diskutieren Sie, die These, dass die Klassifikation eines Zustandes als psychische Störung von sozialen Normen und kulturellen Vorgaben abhängt! Finden Sie Argumente und Beispiele dafür und dagegen! AuSFüHrunG úú Kapitel 5.2.2 VerTieFunG Narzissmus von Narkissos, einem Jüngling des griechischen Mythos, der sein eigenes Spiegelbild liebte und deshalb für das Liebeswerben anderer unempfänglich war Empathie von gr. empathés , „leidenschaftlich“; Fähigkeit und Bereit­ schaft, sich in Gefühle und Haltungen anderer einzufühlen 3 r 4 t Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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