Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]

134 Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Überlegen Sie, was Sie spontan mit dem Begriff Geschlecht assoziieren! Erstellen Sie eine Liste und notieren Sie, welche Schlüsse sich aus ihr ableiten lassen! Ein einfacher Fall, hörte Aloe die Ärzte wieder sagen. Sie beugten sich über Anita. Das ist schnell operiert, sagten sie, und dann ist alles normal, normal zu 93 Pro- zent, zu 95, 98. Höher kämen sie nicht, aber 100 Prozent normal sei nicht normal, das sei niemand. Anita wurde entlassen, ihre Stimme war eher tief als hoch, in einem Zwischenreich, normal-anormal. Ihre vergrößerte Klitoris, ihre Schwellung mit Harnausgang, ihr irgend etwas, das fast ein Penis war, jedenfalls verdammt wie einer aussah, war in mehreren Stufen verkleinert worden, nach innen gedrückt. Anita wurde ein zurechtoperiertes, eindeutiges Tierchen im Staat der Frauen und Männer, der seligen Zweigeschlechtlichkeit. Ulrike Draesner: Mitgift (2005), S. 104 f. Anita, die Schwester der Ich-Erzählerin Aloe in Ulrike Draesners Roman „Mitgift“, wird als Kind operiert, weil ihr Geschlecht nicht eindeutig bestimmt werden kann. Später ist sie mit dieser Zuschreibung zutiefst unglücklich. Sie wird Anwältin und bemüht sich um eine operative Angleichung an ihr gefühltes (männliches) Geschlecht, nach deutschem wie nach österreichischem Recht keine einfache Sache. Bevor es aller- dings noch zu den entsprechenden Eingriffen kommt, wird sie von ihrem Ehemann ermordet. Dieser fühlt sich gekränkt und bemisst Anitas Verhalten im Übrigen anhand noch immer vorherrschender moralischer Maßstäbe. Die zitierte Passage schildert eindringlich den Zwang und Druck, unter dem eine angebliche Geschlechtsnormalität hergestellt wird. Transsexualität gilt nach der WHO-Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10 , Kapitel V) als psychische Krankheit und wird dort als „Störung der Geschlechtsidenti- tät“ ausgewiesen („F 64.0 Transsexualismus“). Das biologische Geschlecht liegt aus medizinischer Sicht eindeutig fest, ein Unbehagen darüber wird als krankheitswertig eingestuft. Das US-amerikanische Klassifikationsmanual DSM stuft in seiner aktuellen 5. Auflage (DSM-V) auch Intersexualität als psychische Störung ein. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Einschätzung eines Zustandes oder einer Befindlichkeit als psychisch krank nicht zwingend mit Leidenszuständen und auch nicht mit wertfrei definierbaren Krankheitsbildern zu tun haben muss. Manchmal sind es auch aus- schließlich gesellschaftliche Wertungen dessen, was als normal oder nicht normal zu gelten hat, die darüber entscheiden, ob etwas als psychische Störung eingestuft wird oder nicht. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Bilden Sie Gruppen und diskutieren Sie den Begriff normal im Hinblick auf die Themen Sexualität und Geschlecht ! Was erscheint ihnen normal, was nicht mehr? Überlegen Sie dabei stets, wie Sie die Begriffe normal und Normalität generell definieren würden! Begründen Sie Ihre Standpunkte! 1 AuSFüHrunG VerTieFunG úú Kapitel 5.4.1 dSM Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, hg. v. der American Psychiatric Association 2 r Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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