Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]

132 Die Tatsache geschlechtlicher Bedürfnisse bei Mensch und Tier drückt man in der Biologie durch die Annahme eines „Geschlechtstriebes“ aus. Man folgt dabei der Analogie mit dem Trieb nach Nahrungsaufnahme, dem Hunger. Eine dem Worte „Hunger“ entsprechende Bezeichnung fehlt der Volkssprache; die Wissenschaft gebraucht als solche „Libido“. Die populäre Meinung macht sich ganz bestimmte Vorstellungen von der Natur und den Eigenschaften dieses Geschlechtstriebes. Er soll der Kindheit fehlen, sich um die Zeit […] der Pubertät einstellen, sich in den Erscheinungen unwiderstehli- cher Anziehung äußern, die das eine Geschlecht auf das andere ausübt, und sein Ziel soll die geschlechtliche Vereinigung sein oder wenigstens solche Handlungen, welche auf dem Wege zu dieser liegen. Wir haben aber allen Grund, in diesen Angaben ein sehr ungetreues Abbild der Wirklichkeit zu erblicken […]. Führen wir zwei Termini ein: heißen wir die Person, von welcher die geschlechtliche Anziehung ausgeht, das Sexualobjekt, die Hand- lung, nach welcher der Trieb drängt, das Sexualziel, so weist uns die wissenschaft- lich gesichtete Erfahrung zahlreiche Abweichungen in bezug auf beide, Sexualob- jekt und Sexualziel, nach […]. Der Geschlechtstrieb ist wahrscheinlich zunächst unabhängig von seinem Objekt und verdankt wohl auch nicht den Reizen dessel- ben seine Entstehung. Sigmund Freud: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905), in: Sigmund Freud: Sexualleben (10. Aufl. 2012), S. 47, 58. Bei allen Schwierigkeiten, die sich aus ihrer „phallozentrischen“ Dimension ergeben, wird hier sehr gut deutlich, wie fortgeschritten die Freud’sche Sexualtheorie nicht nur für Ihre Zeit war. Auch heute, mehr als hundert Jahre später, sind manche der von Freud als „populär“ bezeichneten Sichtweisen noch immer im Umlauf. Insbesondere die Vorstellung kindlicher Sexualität stieß zudem lange Zeit auf heftige Widerstände. Mit der Vorstellung, dass das Sexualobjekt nicht von vornherein feststeht und folglich auch nicht „naturgegeben“ ist, verhält es sich teilweise noch immer so. Freud betonte in späteren Auflagen seiner „Drei Abhandlungen“ die Unabhängigkeit der Objektwahl vom Geschlecht noch stärker. Insofern erscheint auch weder Hetero- sexualität als natürlich noch Homosexualität als unnatürlich , Präferenzen für ein Liebesobjekt mit dem einen oder anderen Geschlecht liegen Freud zufolge bis zur Pubertät überhaupt nicht fest. Es gibt daher keinen hetero- oder homosexuellen Trieb, sondern eine entsprechende Objektwahl. Die natürliche Konstitution des Menschen ist aus dieser Perspektive die Bisexualität. Auf ihrer Basis wird im Lauf der persönli- chen Entwicklung eine bestimmte Objektwahl getroffen, die auch durch kulturelle Tabus und Einschränkungen beeinflusst werden kann. Freud selbst hielt, wohl auch als Kind seiner Zeit, Homosexualität zwar letzten Endes dann doch für eine Abweichung von einer normalen Entwicklung, trug aber zugleich sehr wesentlich dazu bei, einer gegenläufigen Sicht den Weg zu bereiten. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Fassen Sie die zitierte Textpassage aus Freuds Abhandlungen zur Sexualtheorie mit eigenen Worten zusammen und nehmen Sie Stellung dazu! AuSFüHrunG VerTieFunG 2 t Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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