Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]

130 Es darf in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass Selbstbefriedigung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in Europa massiv tabuisiert war. Die Vorstel- lungen, welche Folgen die Selbstbefriedigung bei Kindern und Heranwachsenden hervorrufen könnte, nahmen fast wahnhafte Züge an. Wurden Kinder und Jugendliche bei selbstbefriedigenden Handlungen ertappt, zog dies oft harte Strafen und schwerste Drohungen nach sich – einschließlich jener der Kastration. Das Thema war also in der bürgerlichen Gesellschaft dieser Zeit durchaus präsent. Allerdings spiegelt dies lediglich einen bestimmten historischen Kontext und ist kein Kennzeichen von etwas Allgemein-Menschlichem. Der Ödipus-Mythos ist uns vor allem durch den griechischen Tragödiendichter Sophokles bekannt. Er erzählt davon, dass das Orakel von Delphi Laios, dem König der griechischen Stadt Theben, weissagt, sein Sohn werde ihn töten. Als ein Sohn geboren wird, verstümmelt er die Beine des Neugeborenen und befiehlt einem Hirten, das Kind auszusetzen. Der Hirte bringt dies nicht über sich, er rettet das Kind. Das Königspaar von Korinth adoptiert es schließlich und gibt ihm den Namen Ödipus („Klumpfuß“). Viele Jahre später wird Ödipus von einem Fremden in einen Streit verwickelt und tötet ihn. Sein ihm unbekannter Gegner war sein Vater Laios. Ödipus kommt nach Theben; die Stadt wird von einem gefährlichen Wesen bedroht, der Sphinx. Sie stellt Vorbeiziehenden Rätsel; wer nicht richtig antworten kann, den tötet sie. Ödipus ist der Erste, der das Rätsel lösen kann: Es ist am Morgen vierfüßig, am Mittag zweifüßig, am Abend dreifüßig. Von allen Geschöpfen wechselt es allein die Zahl seiner Füße; aber eben wenn es die meisten Füße bewegt, sind Kraft und Schnelligkeit seiner Glieder am geringsten. „Der Mensch“, antwortet Ödipus. Die Sphinx zieht ab, Ödipus ist der große Held und heiratet die verwitwete Königin, Iokaste – seine Mutter. Mit ihr zeugt Ödipus vier Kinder. Die Götter zürnen ihm und bringen Elend über Theben. Als ihm die Situation klar wird, blendet er sich selbst und irrt als Bettler umher. Freud hat die Bezeichnung Ödipuskomplex wohl keineswegs allein wegen der inzestuösen Beziehung zwischen Iokaste und Ödipus gewählt. Als spannender im Hinblick auf Freuds Theorie des Unbewussten erscheint der Umstand, dass Ödipus zwar außergewöhnlich klug ist (er kann als Einziger das Rätsel der Sphinx lösen), sein eigenes Rätsel ihm aber verborgen bleibt. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Erstellen Sie eine Liste mit Einwänden gegen Freuds Ausführungen zum Penisneid! Begründen Sie Ihre Standpunkte! Sprechen Sie mit Ihrer/Ihrem Sitznachbarin/Sitznachbarn darüber, welche Assoziatio­ nen die Geschichte des Ödipus bei Ihnen hinterlässt! Was erscheint Ihnen aus heutiger Sicht plausibel, was seltsam oder problematisch? Recherchieren Sie „Die Geschichte vom Daumenlutscher“ aus Heinrich Hoffmanns „Struwwelpeter“! Bringen Sie die Geschichte in Zusammenhang mit dem Ödipuskom­ plex und verfassen Sie dazu einen Aufsatz! úú Kapitel 4.5.2 VerTieFunG O  Literaturempfehlung: Sophokles: König Ödipus SphinxStatue aus Korinth. In der griechischen Mythologie war die Sphinx ein unheilvolles Wesen und wurde mit Löwenkörper, Flügeln und Frauenkopf dargestellt. 2 t 3 4 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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