Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]

11 Der Wissenschaftler hat es nicht mit irgendeiner Wirklichkeit „an sich“ zu tun, sondern mit einer mehr oder weniger absichtsvoll durch Begriffe vorstrukturierten Erfahrungswelt. Er erlebt seinen Gegenstand nicht unmittelbar und unreflektiert, sondern nimmt ihn, indem er ihn benennt und damit begrifflich ordnet, bewusst und distanziert wahr. Das löst ihn gleichzeitig aus dem Zwang unmittelbar reflex­ artigen Reagierens auf Umweltreize und gibt ihm die Freiheit zum Denken. Sofern Menschen über Sprache und damit über Begriffe verfügen, gilt das natürlich nicht nur für den Wissenschaftler; aber für den wissenschaftlichen Erkenntnisprozess ist diese begriffliche Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt der Erfahrung conditio sine qua non [d. h. eine notwendige Bedingung]. Renate Mayntz/Kurt Holm/Peter Hübner: Einführung in die Methoden der empirischen Soziologie (5. Aufl. 1978), S. 9. Was hier angesprochen ist, wird uns noch mehrfach und sogar ganz grundsätzlich beschäftigen, auch hinsichtlich der Frage, ob es so leicht ist, zwischen Subjekt und Objekt zu unterscheiden. An dieser Stelle scheint der Hinweis wichtig, dass empiri- sche Forschung nicht einfach ein naiver Zugriff auf irgendwelche Tatsachen ist, die sich eben einmal so finden. Vielmehr werden Daten erhoben, ausgewertet und interpretiert, die selbst immer schon Produkte einer Auswahl und begrifflichen Eingrenzung sind. All diesen Schritten liegen ihrerseits bereits Vorannahmen zugrunde, die niemals ausgeklammert werden können. Wir könnten fragen: Werden sich Menschen im Fall von Geiselnahmen immer so verhalten wie die vier Personen, die vom 23. bis 28. August 1973 in der Stockholmer Kreditbanken festgehalten wurden? Die Erfahrung lehrt uns, dass es nicht immer so ist, manchmal aber schon. Um eine Prognose zu wagen, müssen wir von dem beob- achtbaren Verhalten auf dahinterliegende psychische Prozesse schließen. Aus deren Beschreibung und Interpretation kann in weiterer Folge möglicherweise eine verall- gemeinernde Aussage abgeleitet werden. Sie könnte etwa lauten: Unter bestimmten, näher zu beschreibenden Bedingungen solidarisieren sich Menschen mit Geiselneh- merinnen/Geiselnehmern. Diese Bedingungen sind in den Gefühlen, Grundhaltungen und Einstellungen der Geiseln zu suchen, auch in den konkreten Begleitumständen der Geiselnahme. Von daher lässt sich die Prognose wagen: Wenn Menschen, die bestimmte psychische Voraussetzungen mitbringen, unter diesen und jenen Umstän- den als Geiseln genommen werden, werden sie sich mit einem hohen Grad an Wahrscheinlichkeit mit den Geiselnehmerinnen/-nehmern solidarisieren. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Was tun Psychologinnen/Psychologen Ihrer Auffassung nach? Erstellen Sie mit Ihrer/ Ihrem Sitznachbarin/Sitznachbarn eine Liste über Fragestellungen und Vorgehens­ weisen der Psychologie! Beschreiben Sie die Voraussetzungen des empirischen Forschens ganz allgemein mit eigenen Worten! Untersuchen Sie die vorgeschlagene Prognose über das Verhalten von Geiseln und fassen Sie Pro- und Contra-Argumente zusammen. AuSfüHrunG úú Kapitel 7.2.4 VErtiEfunG 1 2 3 t Eine kurze Einführung Eine kurze Einführung 1 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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