Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Psychologie Teil]
106 die Schmerzensschreie der Opfer in den Ohren klingelten, gewann in der Mehrzahl der Fälle die Autorität. Die extreme Bereitschaft von erwachsenen Menschen, einer Autorität fast beliebig weit zu folgen, ist das Hauptergebnis der Studie und eine Tatsache, die dringendster Erklärung bedarf. Stanley Milgram: The Perils of Obedience. In: Harper’s Magazin, 12/1973, S. 62. Stanley Milgram führte seine Experimente vor dem Hintergrund der Gehorsamsbereit- schaft vieler Vollstrecker der menschenverachtenden Politik des nationalsozialisti- schen Regimes durch. Zusätzliches Interesse entstand aufgrund des Prozesses gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem. Eichmann war als SS-Obersturmbannführer mitverantwortlich für die Ermordung von rund sechs Millionen Menschen gewesen. Eine der Fragen, die sich im Zusammenhang mit diesem Genozid stellten, war, weshalb sich so viele Menschen bereitfanden, andere auf Befehl zu töten und zu quälen. Milgram zeigte, dass nicht viel Druck ausgeübt werden musste, um Menschen zumindest dazu zu bringen, anderen Schmerzen zuzufügen. Es reichten eine Autori- tätsperson und ein institutioneller Rahmen. Je größer eine Gruppe von Menschen, desto größer offenbar auch der Druck, der auf Einzelne entstehen kann. An historischen Beispielen dafür mangelt es nicht. Zu denken ist etwa an den Hexenwahn im frühneuzeitlichen Europa. Offenbar glaubten damals zahllose Menschen, bestimmte Personen würden sich mit dem Teufel verbün- den, von diesem magische Kräfte erlangen und sie anschließend gegen andere einset- zen. Gewiss spielten in diesem Zusammenhang Autoritäten eine große Rolle, denn dieser Glaube kam den meisten seiner Anhänger/innen nicht von selbst, sondern wurde ihnen von kirchlicher Seite vermittelt. Doch der Umstand, dass so viele Men- schen die Vorstellung von Teufelspakt und Hexerei als reale Gegebenheit ansahen, führte dazu, dass sie andere verdächtigten, bei Behörden anzeigten und ihre Tötung verlangten. Es entstand etwas, das später als moral panic bezeichnet wurde. Einem solchen Zustand allgemeiner Erregung liegt die Vorstellung zugrunde, dass eine Person oder Personengruppe als massive Bedrohung einer Gemeinschaft und ihrer Wertvorstellungen betrachtet wird. Massenphänomene dieser Art wurden im 19. und frühen 20. Jahrhundert intensiv untersucht, etwa auch von Sigmund Freud, aber immer auch für politische Zwecke einzusetzen versucht. Dieses Interesse ist bereits in der Untersuchung „Psychologie der Massen“ des Soziologen Gustave le Bon aus dem Jahr 1895 erkennbar. Freud hat sich mit dieser Studie kritisch auseinandergesetzt, insbesondere die Nationalsozialisten haben später versucht, Thesen le Bons zu nutzen, um Menschenmassen zu manipulieren. Aufmärsche, Ansammlung vieler Menschen auf beengtem Raum, Führerkult und unzählige Male wiederholte einfache Parolen wurden in dieser Absicht eingesetzt. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Analysieren Sie die oben zitierte Textpassage von Milgram! Erklären Sie, welche Schlussfolgerungen er aus seinem Experiment zog und warum! VerTieFunG Gustave le Bon (1841–1931) 2 Nur zu Prüfzweck n – Eigentum des Verlags öbv
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