Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]

399 Gedankenexperiment des Naturzustandes zurück: Welche Gesellschaft würden Menschen konstruieren, wenn sie selbst später Teil dieser Gesellschaft wären, jetzt aber noch nicht wüssten, welche Stellung sie in derselben einnehmen würden? Rawls nimmt nun an, dass die Gesellschaftskonstrukteurinnen/-konstrukteure angesichts dieses „Schleiers des Nichtwissens“ (veil of ignorance) bestimmte Übel von vornherein aus ihrer Gesellschaft ausschließen würden. Vernünftigerweise und aus purem Eigeninteresse würden sie keine Bedingungen einführen, die sie selbst übermäßig benachteiligen könnten, selbst wenn sie in der künftigen Gesellschaft die ungüns- tigste mögliche Position zugewiesen bekämen. Auch in weiterer Folge geht es Rawls um eine Form von Gerechtigkeit, die an Verfahren orientiert ist, die nach für alle Beteiligten nachvollziehbaren und niemanden von vornherein benachteiligenden Regeln ablaufen. Im Sinn dieser Theorie wäre Merkels Begriff von Fairness allerdings ein eher seltsa- mer. Denn Merkel will nach einer Straftat offenbar nur einer Seite (nämlich jener der Opfer und ihrer Angehörigen) Fairness zuteilwerden lassen, nicht aber der anderen (jener der/des Täterin/Täters). Dabei wäre diese unter dem Gesichtspunkt von Chancengleichheit und gleicher Verfahrensregeln für alle Beteiligten, genauso zu berücksichtigen. Ein Konzept rechtlicher Verantwortung ist daher ohne wenigstens eine Minimalvariante von Willensfreiheit nicht zu haben. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Beziehen Sie die Ausführungen zum Thema Fairness noch einmal auf das Thema Gerechtigkeit ganz allgemein zurück! Inwiefern haben beide miteinander zu tun, was ist das Spezifische von Fairness? Begründen Sie Ihre Überlegungen stichwortartig! Jede Person hat den gleichen unabdingbaren Anspruch auf ein völlig adäquates System gleicher Grundfreiheiten, das mit demselben System von Freiheiten für alle vereinbar ist. […] Soziale und ökonomische Ungleichheiten müssen zwei Bedin- gungen erfüllen: erstens müssen sie mit Ämtern und Positionen verbunden sein, die unter Bedingungen fairer Chancengleichheit allen offenstehen; und zweitens müssen sie den am wenigsten begünstigten Angehörigen der Gesellschaft den größten Vorteil bringen (Differenzprinzip). John Rawls: Gerechtigkeit als Fairneß. Ein Neuentwurf (2006), S. 78. Die Grundelemente von Rawls’ Fairnesskonzept sind hier prägnant zusammengefasst. Es geht um bestimmte Verfahrensregeln und Chancengleichheit aller Beteiligten. Letztere soll über bestimmte Ausgleichsmodalitäten hergestellt werden. Rawls’ Gerechtigkeitstheorie wurde vielfach aufgegriffen und teils sehr kontrovers diskutiert. Insbesondere die These, dass Menschen angesichts von Unkenntnis ihrer künftigen gesellschaftlichen Position vor der Einführung gravierender Ungleichheiten zurückschrecken würden, stieß auf Skepsis. Immerhin gibt es Menschen, die sehr viel größere persönliche Risiken einzugehen bereit sind als andere, wenn nur ein ausrei- chend großer Gewinn winkt. Die umfassendste Kritik kam von Michael Sandel, der úú Kapitel 9.3.2 1 AuSFüHrung VerTieFung Ethische Grundpositionen Ethische Grundpositionen 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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