Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
377 Worauf es aber vor allem ankommt, ist […] die Einsicht, daß es nicht nur eine einzige Moral, „die“ Moral, sondern viele, von einander höchst verschiedene und vielfach einander widersprechende Moralsysteme gibt. Hans Kelsen: Reine Rechtslehre (2. Aufl. 1960), S. 70. Der Verfassungsjurist und Rechtsphilosoph Hans Kelsen spricht hier einen zentralen Punkt an. Es besteht eine ganze Reihe von Auffassungen zu Moral und Ethik, und keine von ihnen kann den Anspruch erheben, die einzig richtige zu sein. Bei manchen wird sich allerdings sagen lassen, sie seien gänzlich abwegig. Doch auch dann bleiben unterschiedliche Moralsysteme bzw. Ethiken über, die einander sogar widersprechen können. Es ist möglich, sich für eines dieser Systeme einfach so zu entscheiden oder dasjenige zu übernehmen, welches man als Kind gelernt hat. Genauso möglich ist aber, nach den Gründen zu fragen, die für das eine oder andere sprechen. Begründungen zu geben unterscheidet den philosophischen Umgang mit moralischen und ethischen Fragen grundlegend von einem religiösen. Aus diesem Grund erschei- nen sie vielen auch unnötig kompliziert. Das biblische „Du sollst nicht morden“ (Schemot/Exodus 20,13; Devarim/Deuteronomium 5,17) scheint doch völlig hinzurei- chen. Allerdings stellt sich die Frage, was überhaupt unter „morden“ zu verstehen sei. Die Bibel gibt hier keine genaue Begriffsdefinition, moderne Strafgesetzbücher hingegen schon. Diesen zufolge ist Mord meist als vorsätzliche Tötung eines anderen Menschen definiert, wobei nicht in Notwehr, also zur Abwehr eines gefährlichen, rechtswidrigen Angriffs, oder in einer vergleichbaren Situation gehandelt wurde. Nun ist an anderen Stellen der Bibel von göttlichen Befehlen zur vorsätzlichen Tötung unbewaffneter Menschen die Rede, etwa im Buch Schemot/Exodus selbst, wenige Kapitel nach dem ausdrücklichen und umfassenden Verbot zu morden (Schemot/ Exodus 32,26 ff.). Ähnlich halten es moderne Strafgesetze. Ein/e Soldat/in, der/die im Krieg auf Befehl andere, auch Unbewaffnete, erschießt, gilt grundsätzlich so wenig als Mörder/in wie ein/e Henker/in, der/die ein Todesurteil vollstreckt. Es hängt also vieles von Definitionen ab. Einfache Regeln, die auf den ersten Blick alle möglichen Fälle abdecken, mögen zwar besonders praktikabel erscheinen; werden diese Regeln aber dann durchbrochen, mutet das doch sehr willkürlich an. Die Frage, ob der Regelbruch berechtigt ist, kann dort, wo Begründungen keine Rolle spielen sollen, zudem gar nicht aufkommen. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Bilden Sie Gruppen und diskutieren Sie die These, dass es die eine einzige Moral nicht gebe! Finden Sie Argumente dafür und dagegen! Beurteilen Sie die Frage, ob es nicht doch einfache moralische Regeln geben kann, nach denen sich Menschen immer verlässlich halten können ohne groß darüber nachdenken zu müssen! Begründen Sie Ihre Überlegungen! Recherchieren Sie im Strafrecht Paragraphen zum Thema „Mord“! Versuchen Sie eine Interpretation! AuSFüHrung úú Kapitel 10.1.4 VerTieFung 3 t 4 r 5 Hans Kelsen (1881–1973) Ethische Grundpositionen Ethische Grundpositionen 10 Nur zu Prüfzwecken – Eigen um des Verlags öbv
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