Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
370 alledem hilft uns unsere Phantasie, die, sofern nicht allzu sehr unterdrückt, im Zusammenwirken mit dem Denken eine Geschichte darüber hervorbringen kann, wer wir sind, woher wir kommen, was wichtig war in unserem Leben und wie es weiterhin verlaufen kann oder soll. Allein dies schon ist eine Hypothese, denn wir wissen nicht, wie lange es überhaupt dauern wird. Mehr als alles andere entscheidend für unsere Geschichte von uns selbst sind unsere Erinnerungen. Dabei sind Erinnerungen selbst schon das Ergebnis von Auswahlpro- zessen, und nie beziehen sie sich auf das erinnerte Ereignis oder die erinnerte Person selbst, sondern stets auf frühere Erinnerungen. Sind sie dadurch unbrauchbar? Keineswegs, wir dürfen sie nur nicht überschätzen – und sollten uns von Zeit zu Zeit fragen, warum wir uns gerade an diese oder jene Begebenheit so genau erinnern oder zu erinnern glauben. Wir können diese Erinnerungen auch neu bewerten und neu deuten – sie zu entfernen und durch neue zu ersetzen ist schwierig. Es wäre uns klar, dass wir uns gerade selbst betrügen. Warum wir Erinnerungen so wichtig nehmen, ist wieder eine andere Frage. Fest steht, dass das, wozu wir Ich sagen, sehr stark an unsere Erinnerungen geknüpft ist – zugleich aber auch daran, in welche Beziehung wir diese Erinnerungen zueinander setzen und miteinander verflechten. In gewisser Weise sind wir das, woran wir uns erinnern. Die Erinnerung verbindet das sich erinnernde mit dem erinnerten Wesen und verleiht ihm solchermaßen zumindest das Gefühl, mit sich selbst identisch zu sein. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Was sind Ihre frühestens Lebenserinnerungen? Überlegen Sie, wie diese mit Ihrem heutigen Bewusstsein Ihrer selbst zusammenhängen! Er war der einsame und geistesklare Beobachter einer vielgestaltigen, augenblick- lichen und fast unerträglich deutlichen Welt. Babylon, London und New York haben mit ihrer wilden Pracht die Einbildungskraft der Menschen überladen; nie- mand in ihren übervölkerten Türmen oder im Getriebe ihrer Straßen hat die Hitze und den Druck einer derart nimmermüden Wirklichkeit gefühlt, wie sie Tag und Nacht auf dem unseligen Ireneo in seinem armseligen südamerikanischen Vorort lasteten. […] Ich vermute, dass er zum Denken nicht sehr begabt war. Denken heißt, Unterschiede vergessen, heißt verallgemeinern, abstrahieren. In der vollge- pfropften Welt von Funes gab es nichts als Einzelheiten, fast unmittelbarer Art. Jorge Luis Borges: Das unerbittliche Gedächtnis (1942), in: Jorge Luis Borges: Gesammelte Werke, Erzählungen I (2000), S. 187. Das Gedächtnis von Ireneo Funes ist unerbittlich; nach einem Unfall ist der junge Mann außerstande, irgendetwas zu vergessen. Gelähmt liegt er in seinem Bett, lernt alte Sprachen und erinnert sich an jede Einzelheit, die er jemals gesehen, gehört, ertastet oder gelesen hat. Was er erinnert, erinnert er fast so, wie er es wahrgenom- men hat, es gibt da keine Unterschiede, keine nachträglichen Einfärbungen oder Verknappungen. Ein solches Gedächtnis wäre erdrückend, es ließe nichts aus und keine Möglichkeiten zu, über das Erinnerte nachzudenken oder die Erinnerungsstücke zueinander in Beziehung zu setzen. Verallgemeinerungen wären ohnedies nicht möglich. 1 r AuSfüHrunG Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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