Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]

332 4.6 Kunst und Interpretation Überhaupt scheint der Begriff des Kunstwerks fragwürdig geworden zu sein. Die vor allem im deutschsprachigen Raum lange Zeit gängige Unterscheidung zwischen ernster im Sinne von seriöser Kunst und Unterhaltung verliert mehr und mehr an Bedeutung. Vieles wird als Kunst betrachtet, ohne dass gefragt wird, worin denn das dazu gehörige Kunstwerk besteht. Ein zeichentheoretischer Ansatz wie jener des Philosophen Nelson Goodman kann hier vielleicht zur Klärung beitragen. Für Goodman ist schon die Frage, was denn Kunst oder ein Kunstwerk eigentlich sei, falsch gestellt. Die richtige Frage laute: Wann ist Kunst? Ein und dieselbe Sache könne einmal ein Kunstwerk sein, ein andermal nicht. Es komme darauf an, was sie für wen unter welchen Umständen repräsentiert . Diese Repräsentation funktioniert für Goodman bei Kunstwerken vor allem über Exemplifikation. Etwas zu exemplifizieren (von lat. exemplum , „Beispiel“) bedeutet, es durch Beispiele auszudrücken. In Good- mans Ansatz exemplifizieren Gegenstände ihre sämtlichen Eigenschaften, zum Beispiel ein Kuchen seine einzelnen Zutaten, die Art seiner Zubereitung. Bei Kunstwerken verhält es sich komplexer. Eine Symphonie etwa, die Gefühle tragi- schen Verlusts zum Ausdruck bringt , lässt dadurch nicht etwas erkennen, das sich buchstäblich in der Sache befände wie Mehl in einem Kuchen. Auch handle es sich weder um Gefühle der/des Komponistin/Komponisten noch um solche des Publikums. Es lasse sich aber sagen, die Symphonie besitze die besagten Gefühle metaphorisch und nehme durch Exemplifikation auf sie Bezug . Sie veranschaulicht diese Gefühle also, aber nur für bestimmte Rezipientinnen/Rezipienten, die eine bestimmte Deu- tung oder Interpretation des Musikstücks vornehmen. Kunstwerke exemplifizieren im Übrigen nicht alle ihre Eigenschaften. Sie ermöglichen es unterschiedlichen Interpre- tinnen/Interpreten, zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Deutungen vorzuneh- men. Kunstwerke exemplifizieren also nicht erschöpfend. An einem Roman wie „Mrs. Dalloway“ von Virginia Woolf oder „Der Zauberberg“ von Thomas Mann können unterschiedliche Facetten und Blickwinkel festgestellt werden, je nach Interesse, Vorbildung, Phantasie und dem kulturellen Umfeld der/des Interpre- tin/Interpreten. Kunstwerke zeichnen sich vielleicht gerade dadurch aus, dass sie diese große Vielfalt an Möglichkeiten eröffnen. So lassen sich immer wieder neue Gesichtspunkte entdecken und in bis dahin ungewohnter Form interpretieren. Sie geben gewissermaßen immer wieder etwas Neues her und erlauben deshalb vielfälti- gere Deutungen als andere Dinge. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Geben Sie den Unterschied, der aus zeichentheoretischer Sicht zwischen einem Kuchen und einem Kunstwerk besteht, mit eigenen Worten wieder! Was ist für Sie Kunst? Notieren Sie Ihre Gedanken und schreiben Sie darüber einen Essay! GrundlaGen Metapher von gr. metaphorá , „Übertragung; rhetorische Figur“; dabei wird ein Wort nicht in buchstäbli­ chem Sinn gebraucht, sondern steht in einer Ähnlichkeitsbeziehung zu dem Gemeinten, z. B. wenn statt von Alter von Lebensabend gesprochen wird oder von Sonnenun­ tergang anstatt vom Ende des Tages. 1 2 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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