Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
326 Für eine weitere Klärung der skizzierten Position könnte es relevant sein, dass sich Kant in unserem Zusammenhang auch auf den nicht unproblematischen Begriff des Gemeinsinns bezieht, der „nur durch Gefühl und nicht durch Begriffe, doch aber allgemeingültig bestimme, was gefalle oder missfalle“. Problematisch erscheint hier weniger der Rückgriff auf Gefühle, als vielmehr die Bezugnahme auf letztlich nicht hinterfragbare Gemeinsamkeiten, insbesondere, wenn sie derart weit gezogen gedacht sind, wie dies hier der Fall zu sein scheint. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Wie reagieren Sie, wenn jemand von einem Musikstück, das Sie besonders toll finden, nichts hält? Macht es einen Unterschied, wer sich abfällig äußert? Bilden Sie Gruppen und diskutieren Sie darüber! 4.3 Genie Die Vorstellung des autonomen, originellen, kreativen Künstlers verband sich insbe- sondere im 18. und 19. Jahrhundert mit jener des Genies. In der Populärkultur spielt das Genie noch immer eine Rolle, im Rahmen von Kunstphilosophie, Kunstwissen- schaft und Kunstkritik ist es indes aus der Mode gekommen. Für Kant etwa bedurfte es zur Beurteilung von künstlerischen Hervorbringungen, wie wir eben gesehen haben, Geschmack , die Hervorbringung selbst aber erforderte Genie . Darunter verstand Kant ein Talent zur Kunst (auch zur Wissenschaft brauche es Talent, aber diesbezüglich wollte Kant nicht von Genie sprechen). Einbildungskraft und Verstand sind für Kant die Gemütskräfte , die das Genie ausmachen. Unter Einbil- dungskraft versteht Kant produktives Erkenntnisvermögen, das es erlaubt, aus den Elementen der eigenen Erfahrungswelt etwas Neues zu schaffen. Kants Geniebegriff ist also eine Bezeichnung für bestimmte Formen künstlerischen Schaffens, keineswegs aber eine überzogene Stilisierung bestimmter Menschen zu göttergleichen, gänzlich aus eigener Vollkommenheit agierenden Schöpfern ganz neuer Welten. Später allerdings erfährt die Bezeichnung Genie eine Reihe von Modifikationen, wobei auch ein bestimmter Begriff von Intuition im Sinne unmittelba- rer Schau von Wirklichkeit eine Rolle spielt. So gewinnt der Künstler zuweilen gleich einem Seher unmittelbare Einsichten in Wirklichkeiten, die anderen verborgen bleiben müssen. Arthur Schopenhauer brachte dieses Geniekonzept in Zusammenhang mit dem Begriff des Wahnsinns und begründete damit ein weiteres wirkungsmächtiges Stereotyp. Genialität und Wahnsinn lägen eng beisammen und würden sogar ineinan- der übergehen . In der Kunsttheorie hat der Geniebegriff im Lauf des 20. Jahrhunderts an Bedeutung verloren. Dafür hat er in anderen Lebensbereichen Einzug gehalten; insbesondere im wissenschaftlichen Bereich wird er immer noch gerne verwendet, zumindest in populären und journalistischen Darstellungen sowie in der Alltagssprache. VerTieFunG O Literaturempfehlung: Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, § 20, B 65/ A 64. 2 r GrundlaGen BeethovenDenkmal von Max Klinger, Skulptur aus Marmor, Bronze, Bernstein, Elfenbein. und Mosaik, Höhe der Figur 150 cm,, 1897/1902, Leipzig, Museum der Bildenden Künste O Literaturempfehlung: Arthur Schopenhauer: Die Welt als Wille und Vorstellung I, § 36. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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