Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
321 Säkularisierung bedeutet so viel wie Verweltlichung, also Abkehr einer Gesellschaft von einer religiösen zu einer nicht-religiösen Struktur. Damit werden häufig Entwick- lungen bezeichnet, wie sie während Renaissance und Humanismus stattfanden, aber auch im aufgeklärten Absolutismus, als etwa unter Joseph II. in Österreich Klöster von staatlicher Seite aufgelöst und anderen Verwendungen zugeführt wurden. In den 1950er- und 1960er-Jahren gewannen Säkularisierungstheorien an Bedeutung, die besagten, dass moderne oder neuzeitliche politische, rechtliche und wissenschaftli- che Weltdeutungen und Entwürfe generell aus religiösen oder theologischen Konzep- ten abgeleitet seien. Wichtige Vertreter waren neben Karl Löwith der Religionsphilo- soph Jacob Taubes und der Jurist und Rechtstheoretiker Carl Schmitt. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Bilden Sie Gruppen und erörtern Sie, was Löwith mit dem Vorwurf der Säkularisierung heilsgeschichtlicher Erwartungen meinen könnte! In der folgenden Untersuchung bezeichnet der Ausdruck „Philosophie der Geschichte“ die systematische Ausdeutung der Weltgeschichte am Leitfaden eines Prinzips, durch welches historische Geschehnisse und Folgen in Zusammenhang gebracht und auf einen letzten Sinn bezogen werden. […] Weil die Philosophie der Geschichte von Augustin bis Bossuet keine wissenschaftliche Theorie der „wirkli- chen Geschichte“ gibt, sondern eine dogmatische Geschichtslehre auf der Grund- lage von Offenbarung und Glauben ist, zogen sie [die modernen Philosophen] den Kurzschluss, dass die theologische Geschichtsdeutung […] philosophisch und historisch belanglos sei und dass das eigentlich historische Denken erst mit dem 18. Jahrhundert beginne. Karl Löwith: Weltgeschichte und Heilsgeschehen (8. Aufl. 1990), S. 11. Löwith betont den seiner Auffassung nach engen Zusammenhang zwischen Geschichtsphilosophie und Geschichtstheologie. Für ihn gibt es einen bruchlosen Übergang zwischen theologischer und philosophischer Spekulation über die Geschichte . Jede Spekulation über Geschichte, die nicht systematische Ausdeutung der Weltgeschichte am Leitfaden eines Prinzips ist, klammert er freilich aus. Die Vergangenheit, so Johann Gustav Droysen, einer der wichtigsten Vertreter wissen- schaftlicher Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, sei eben vergangen und könne deshalb nicht zum Gegenstand historischer Forschung werden. Das mag überraschend wirken, leuchtet aber unmittelbar ein, wenn man sich über- legt, worauf sich eben diese Forschung bezieht: auf das, was von der Vergangenheit in der jeweiligen Gegenwart noch unvergangen ist, oder wie Droysen es ausdrückt, auf Texte, Monumente, Gebäude, sämtliche nur vorstellbare Überreste. Dies ist alles, was von früheren Zeiten in einer späteren Gegenwart noch vorhanden ist und was man heranziehen kann, um die früheren Zeiten zu erforschen. Doch kann sich diese Erforschung nur über Spuren vollziehen (eben besagte Überreste), und weil es selbst bei Vorliegen zahlreicher Überreste immer viel mehr Lücken als Spuren gibt, muss Säkularisierung von spätlat. saecularis , „weltlich, zur Welt gehörig“ 1 AuSFüHrunG VerTieFunG Johann Gustav Droysen (1808–1884) Mensch-Sein 1 Mensch-Sein 1 8 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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