Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
320 erreicht worden. Gesellschaftsentwürfe, die über dieses Modell hinausgehende, utopische Ziele darlegten, seien nicht erkennbar. Diese Theorie war die prominenteste Variante der späterhin als Posthistoire bezeich- neten ideengeschichtlichen Strömung. Sie geht von einem geschichtsphilosophischen Modell im Sinne Hegels aus, dessen Erfüllung eingetreten sei. Fukuyama knüpfte dabei an eine Hegeldeutung des Philosophen Alexandre Kojève aus den 1940er-Jahren an. Kojève zufolge gab es außerhalb des Hegelianismus im 19. und 20. Jahrhundert keine politisch-philosophische Konzeption, die geschichtliche Auswirkungen gehabt hätte. Es sei lediglich offen, ob sich eine rechte oder eine linke Lesart des Hegelianis- mus durchsetzen werde. Fukuyama erklärte Anfang der 1990er-Jahre den Rechtshege- lianismus zum Sieger. Fukuyamas Thesen und jene der Posthistoire insgesamt galten eine Zeit lang als vieldiskutierte Modeströmungen, deren Attraktivität allerdings bald auch wieder verebbte. Dies lag vermutlich nicht zuletzt auch daran, dass sie bloße, offenkundig politisch motivierte Behauptungen als ernstzunehmende Prämissen zu behandeln versuchten. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Bilden Sie Gruppen und diskutieren Sie die Positionen Fukuyamas! Finden Sie Argu mente, die für und gegen seine Vorstellungen sprechen! 3.4 Kritik der Geschichtsphilosophie Der Philosoph Karl Löwith widmete sich einer kritischen Auseinandersetzung mit neuzeitlichen Geschichtsphilosophien, die seiner Auffassung nach eine Transforma- tion christlicher Heilserwartungen in einen raum-zeitlichen Kontext vornehmen. Insbesondere die Idee des Fortschritts sei im Rahmen linear-zielgerichteter Geschichtsbilder zum zentralen Bezugspunkt geworden. Dies und die darin zum Ausdruck kommende Zeitauffassung erweise das geschichtsphilosophische Modell als Produkt der Säkularisierung heilsgeschichtlicher Erwartungen . Dem Denken der antiken Welt seien lineare Zeitkonzepte fremd gewesen, demgegenüber nehme die jüdisch-christliche Tradition ein endgültiges Ziel des Weltgeschehens , einen Zweck jenseits der tatsächlichen Ereignisse an. Das Ziel christlicher Heilserwartung liege allerdings außerhalb von Raum und Zeit. Diese Auffassung stellt für Löwith den Kern von Geschichtstheologie dar, als deren letzten wirkungsmächtigen Repräsentanten er Jacques Benigne Bossuet heranzieht. In Bossuets „Discours sur l'histoire universelle“ von 1681 wird menschliche Geschichte durch die Vorsehung gelenkt. Diese Vorsehung finde allerdings in der wahrnehmbaren Geschichte der Welt keinen sichtbaren Ausdruck, sie wird vielmehr auf eine metaphy- sische Ebene bezogen gedacht. Die Geschichtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, so Löwith, säkularisiere diese Sichtweisen, indem sie sie auf eine raum-zeitliche (man könnte sagen innerweltliche) Ebene bringe. Der Begriff der Vorsehung werde durch jenen des Fortschritts verdrängt, wobei die Möglichkeiten des Letzteren bei aller Diesseitigkeit als grenzenlos gedacht würden. Francis Fukuyama (geb. 1952) O Literaturempfehlung: Francis Fukuyama: Das Ende der Geschichte. Wo stehen wir? (1992) Rechtshegelianer politisch konservativ und religiös orientierte Anhänger Hegels, ursprünglich (in der ersten Hälfte des 19. Jahrhun derts) auch um eine politischideologische Stützung des preußischen Staats bemüht 3 t GrundlaGen Karl Löwith (1897–1973) O Literaturempfehlung: Karl Löwith: Weltgeschich te und Heilsgeschehen (1990). Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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