Psychologie und Philosophie, Schulbuch [Philosophie Teil]
216 aus auch ganz anders angenommen werden könnten. Im konkreten Fall wird etwa vorausgesetzt, ·· dass dem Personalpronomen „ich“ auch eine bestimmte Seinsweise entspricht, ·· dass ein raum-zeitliches Kontinuum besteht, in das wir eingebettet sind, ·· dass unser Leben eine chronologisch-genealogische Dimension aufweist, sich also in einer bestimmten Art und Weise entwickelt hat. Wenn wir über unsere Situation nachgrübeln, reduzieren wir in der Regel eine Vielzahl von „Situationen“, die Relevanz für uns haben, und räumen einer davon Priorität gegenüber allen anderen ein. Sich darüber klar zu werden, dass dem so ist, stellt für sich genommen schon einen wichtigen Erkenntnisschritt dar. Anregungen zum selbstständigen Weiterarbeiten Geben Sie eine Antwort auf die Fragen der/des Spaziergängerin/Spaziergängers! Haben Sie Schwierigkeiten mit der Beantwortung? Diskutieren Sie mit Ihrer/Ihrem Sitznachbarin/Sitznachbarn darüber! In den meisten Dialogen Platons verfolgt Sokrates die Taktik, seinen Gesprächspart- nern zu vermitteln, dass sie im Grunde gar nicht wirklich denken und auch über kein wirkliches Wissen verfügen, sondern lediglich Aussagen anderer nachbilden. Unter dem Vorwand unschuldigen Fragens zeigt Platons Sokrates die unreflektierte Vorur- teilshältigkeit von Meinungen, die sich den Anschein von Einsicht und Wissen geben. Der Begriff Meinung (gr. dóxa ) wird dabei auch in schroffen und expliziten Gegensatz zu „Wissen“ (gr. epistéme ), gebracht. Bei diesem als élenchos („Widerlegung“) bezeich- neten Verfahren besteht die gewünschte Auskunft in einer Art „Selbstoffenbarung“ der Befragten, die der Fragende insgeheim vorwegnimmt und mit seinen Fragen provozieren möchte. Weil der platonische Sokrates Philosophie wesentlich als „Hebammenkunst“ ( maieutiké ) versteht, sollen die durch Fragen zum Denken Ange- regten nicht mit neuerlichen „Gewissheiten“ bedient werden, sondern selbst weiter- denken. Der Philosoph Hans-Georg Gadamer hat die zentrale Bedeutung des Fragens in der Philosophie in einem seiner Texte sehr pointiert zusammengefasst: Die großen Grundfragen der Philosophie haben alle diese Struktur, dass sie sich nicht auf eine Weise stellen lassen, die ihre Beantwortung eindeutig ermöglicht. Sie scheinen sich dem Zugang unserer Begriffe zu entziehen und gleichwohl fahren sie fort, in solchem Entzug anzuziehen. Angezogen zu werden von etwas, das sich entzieht, macht die Grundbewegung des philosophischen Interesses aus. HansGeorg Gadamer: Über leere und erfüllte Zeit (1969), S. 137. Das Fragen selbst steht also im Zentrum des Philosophierens. Philosophisches Wissen erweist sich insofern stets als ein Abschied von Vorurteilen und Ressentiments, nicht 1 Platons Dialoge Der Philosoph Platon verfasste seine Schriften in Dialogform. Dabei unterhält sich Platons Lehrer, der Philosoph Sokrates (469–399 v. Chr.), mit einem oder mehreren Gesprächspartnern und entwickelt so Platons Philosophie. ausFüHrunG O Literaturempfehlung: Platon: Sophistes 230d; Theaitetos 150b–151d. VerTieFunG Hans-Georg Gadamer (1900–2002) Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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