Treffpunkt Deutsch 2, Sommertraining

Die Waldfee – Ein Leseabenteuer Umgang mit Texten Bei einem gemütlichen Sommerspaziergang durch den Wald entdeckst du eine Papierrolle. Was hat es mit dieser auf sich? Gespannt entrollst du sie und liest sie aufmerksam: 1 Vor langer Zeit lebte in einem kleinen Dorf des südlichen Burgenlandes ein hübscher, munterer Bursche namens Hans, der allen Mädchen gefiel, sodass ihn jede gern zum Mann genommen hätte. Der Jüngling war lieb und freundlich zu allen, aber das Heiraten wollte er sich noch überlegen. Schließlich verließ er das Dorf und hielt sich längere Zeit in der Fremde auf. Aber eines Tages kam er mit einem unbekannten Mädchen wieder angeritten, das ein blaues Kleidchen trug und von bezaubernder Schönheit war. Bald darauf feierte er Hochzeit mit der holden Schönen. Es lag ein geheimnisvolles Dunkel um sie; niemand wusste, woher sie stammte, und wenn man Hans fragte, zuckte er lächelnd die Achseln. Man redete bald im Dorf, dass die Frau eine Vila, eine gute Waldfee sei, die das Herz des jungen Burschen erobert habe. Manche glaubten zu wissen, Hans habe der Geliebten versprochen, ihre Herkunft geheim- zuhalten, sie nie Vila zu rufen und sie auch nie aufzufordern, zu tanzen oder zu singen, sonst sei es mit dem Glück beider zu Ende. Die Jahre vergingen dem jungen Ehepaar in ungetrübter Freude; zwei liebe Kinder, die ihnen der Himmel beschert hatte, vermehrten ihr Glück. Es gab zwar Tage, an denen die junge Frau allein das Haus verließ und sich stundenlang im Wald aufhielt, aber Hans, der diese Gänge den Dorfbewohnern möglichst zu verheimlichen suchte, stellte nie eine Frage und machte nie seiner Frau einen Vorwurf daraus. Freundlich ließ er sie gehen, und herzlich war sein Gruß, wenn sie zurückkam. Einmal kehrte Hans von einem weiten Weg nach Hause, und als er seine schöne Frau und seine beiden Kinder erwartungsvoll nach ihm ausschauen sah, begrüßte er sie jubelnd und rief im Überschwang der Freude seiner lieblich lächelnden Frau zu: „Oh, sing doch und tanz, liebe Vila, wie damals, als ich dich auf der Waldwiese sah!» Da trübten sich die lieblichen Gesichtszüge seiner Frau, aber sie begann zierlich zu tanzen und mit leiser, wohlklingen- der Stimme ein Lied zu singen. Auf einmal erinnerte sich Hans seines Ver- sprechens. Mit raschem Griff suchte er seine Frau am Weitertanzen zu hindern; aber es war schon zu spät. Schluchzend warf sich die Frau in seine Arme und stöhnte: „Hans, Hans, warum hast du das getan? Nun ist’s aus mit unserem Glück!“ Wie ein Nebelhauch ent- schwand sie aus seinen Armen. Der Mann und die Kinder blieben allein zurück. Zwar war es Hans noch oft an nebeligen Abenden, als blicke die Waldfee durch das Fenster zu ihren Lieben herein, aber wenn er dann ins Freie eilte, um sie zu ergreifen, war es nur ein Nebelstreif, der ihm das geliebte Bild vorgetäuscht hatte. 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 26 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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