sprachreif, Schreibkompetenztraining: Analytische und interpretatorische Textsorten

77 3. 3 — Textinterpretation Eichendorff: Das lyrische Ich befindet sich am Ort der Liebe oder sieht ihn zumindest innerlich vor sich, erinnert sich mit Schmerzen, ist orientierungslos, schwankt zwischen einem Leben als Sänger oder Soldat, Letzteres geht in Richtung Selbstzerstörung, mündet in der letzten Strophe in Todessehnsucht. Hahn: Das lyrische Ich rechnet ab, mit der Beziehung aber auch mit sich selbst. Es hat sich in der Beziehung oft selbst belogen, selbst getäuscht, alles getan, um die Beziehung aufrecht zu erhalten. Nun weint es dem Partner keine Träne nach, versinkt aber auch nicht in Selbstmitleid, sondern macht sich von allen falschen Anstren- gungen frei, verzeiht sich, dass es überhaupt diese Partnerschaft eingegangen ist und kann jetzt wieder aufatmen und selbstbestimmt leben. — Diskutieren Sie, ob das lyrische Ich im Gedicht „Verzeihung“ ein Mann oder eine Frau ist oder ob beides möglich ist: Im Prinzip ist beides möglich. Dass das Gedicht von einer Autorin verfasst wurde, sagt noch nichts über das Geschlecht des lyrischen Ichs aus. Geht man allerdings von bestimmten Verhaltensmustern zwischen Frau und Mann aus, dann schreibt man das Nachdenken über eine Beziehung, die Bemühung um die Beziehung und die Aufarbeitung eher der Frau zu. Auch ein Kontext von Emanzipation und „Genderthe- men“ (siehe Infobox) spricht dafür. Die Interpretation von dramatischen Texten Erschließungsmerkmale für dramatische Texte finden Sie auf S. 48 f. Dramatische Texte sind letztlich dafür geschrieben, um auf dem Theater aufgeführt zu werden. Jede Inszenie- rung ist gleichzeitig eine Interpretation. Eine Regisseurin, ein Bühnenbildner, Schauspielerinnen und Schauspie- ler müssen die Handlung, den Raum, die Figuren in einer konkreten Weise auf die Bühne bringen, d.h. interpre- tieren. Wenn Sie als Schülerin, als Schüler ein Drama oder einen Ausschnitt interpretieren, machen Sie nichts anderes als jemand, der Regie führt: Sie überlegen sich, auf welche Weise man die Handlung und die Figuren verstehen kann. Im Rahmen der schriftlichen Reife- und Diplomprüfung können natürlich keine vollständigen Dramentexte behandelt werden, sondern es werden Ihnen Ausschnitte, Szenen oder kurze Szenenfolgen vorgelegt werden. Sie können daher schwer erkennen, welchem spezifischen dramatischen Genre der Text angehört. Aber: Nützen Sie die in der Aufgabenstellung zumeist angeführte Bezeichnung: Tragödie, Komödie, Tragikomödie, (bürgerliches) Trauerspiel, Schauspiel, Posse, dokumentarisches Drama, soziales Drama, historisches Drama, Einakter, Minidrama … Sie erhalten damit eventuell Hinweise, — ob es um einen tiefgreifenden Konflikt geht, der wahrscheinlich in der Katastrophe enden wird (Tragödie), oder ob es eher um vergnügliche Verwicklungen geht, die sich am Ende in einem Happy-end auflösen (Komödie); — ob eine Figur komplex (Schauspiel) oder eher eindimensional als Typ (Posse) angelegt ist; — welcher Gesellschaftsschicht die Figuren angehören: dem hohen Stand (Tragödie), dem Bürgertum (bürger- liches Trauerspiel), dem niederen (Arbeiter-)Stand (soziales Drama). Bei der Interpretation eines dramatischen Textes müssen Sie sich auf folgende Aspekte konzentrieren: Charak- terisierung von Figuren – Figurenkonstellation – Figurenrede – Handlung/der dramatische Konflikt – Kontexte. Figurencharakterisierung Dass die genannten Aspekte alle miteinander zusammenhängen, zeigt sich an der Gestaltung einer Bühnenfi- gur. Eine Figur wird charakterisiert — durch ihre direkt beschriebenen Eigenschaften: – mittels Beschreibung durch Autorin/Autor im Personeninventar und in Regieanweisungen → mögliche Frage zur Interpretation: Wieso sieht die Autorin/der Autor die Figur so? (Wie hat Schiller die historische Figur der Maria Stuart für die Bühne vorgesehen? Welche Ansicht bzw. Absicht steht dahinter?) – mittels Äußerungen anderer Figuren; aber Achtung: Diese sehen die Figur aus ihrer Perspektive heraus; zwei oder mehr Figuren können auch unterschiedliche Ansichten haben → mögliche Frage zur Interpretation: Was sagt das über eine Figur aus, wenn sie eine andere Figur in einer bestimmten Weise wahrnimmt? – mittels Selbstbeschreibung, Eigencharakterisierung; aber Achtung: Die Figur sieht sich selbst so, andere können sie anders sehen → mögliche Fragen zur Interpretation: Was sagt das über eine Figur aus, wie sie sich selbst wahrnimmt? Wie weit stimmen Selbstbild und Fremdwahrnehmung überein? — durch ihre indirekt gezeigten Eigenschaften: – aufgrund ihrer Handlungsweise(n) und ihres Verhaltens gegenüber anderen Figuren: Löst die Figur einen Konflikt aus, verschärft/vermeidet sie ihn? Ist sie aktiv oder passiv? Wie geht sie mit anderen Figuren um? 3.3.6 – TIPP N r zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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