sprachreif, Schreibkompetenztraining: Analytische und interpretatorische Textsorten

75 3. 3 — Textinterpretation Das zeigt auch die erste Verszeile: Sie beginnt fast wie ein Märchen. (Während aber die Märchenformel „Es war einmal“ (z. B. ein König) sehr unbestimmt ist, gibt es hier einen konkreten König und einen konkreten Ort – auch wenn dieser sagenhaft ist –, nämlich Thule.) Einen Blick muss man auch auf die Reimwörter werfen: So reimen sich der „König von Thule“ und die „Buhle“, die Verbundenheit der beiden durch ihre Liebe wird auch durch die Reimbindung ausgedrückt. Nachdem die Buhle gestorben ist, bleibt dem König nur mehr der Becher seiner Buhle: Es reimen sich der König als „Zecher“ und „Becher“, und bei jedem „Schmaus“ trank er „daraus“, der Becher ist alles, was er von der Liebe noch hat, es geht ihm nichts „darüber“ und jedesmal, wenn er daraus trinkt, gehen ihm die Augen „über“ … Für ihn ist sein ganzes „Reich“ nicht dem Becher „[…]gleich“. Und am Ende folgt dem letzten Feuer, das noch im Becher wie im König ist („Lebensglut“), das Ende: Der König stirbt, und der Becher versinkt in der „Flut“. Auffällig sind auch Übereinstimmungen von Lauten (= Assonanz): Hier zeigt sich die Verbundenheit von Buhle und Becher. Und als der König dem Tod nahe ist, ergibt sich eine Häufung des Konsonanten t: Dort stand der alte Zecher, Trank letzte Lebensglut, Und warf den heiligen Becher Hinunter in die Flut. Er sah ihn stürzen, trinken Und sinken tief ins Meer, Die Augen täten ihm sinken, Trank nie einen Tropfen mehr. Bestimmen Sie Assonanzen im Gedicht „Das zerbrochene Ringlein“. Wie entscheidend die Anordnung der Verszeilen besonders für moderne Gedichte ist, zeigt das Gedicht „Verzei- hung“ von Ulla Hahn. Besonders deutlich wird dies, wenn wir die Strophen nebeneinander anordnen: Ich verzeihe mir jede Sekunde die ich um dich geweint alle Tage Monate Jahre des Wartens das dich gemeint Ich verzeihe mir jede Lüge jede Täuschung die mich von dir entfernte ich glaubte aber ich näherte mich dir Ich verzeihe mir dich ich werde nichts verloren geben ich gebe dir was ich will zurück was ich nicht will Ich lebe. — Markieren Sie in diesem Gedicht Wiederholungen und Gegensätze. — Vergleichen Sie die zweite Zeile jeder Strophe miteinander. — Erschließen Sie in der zweiten Strophe: Wer hat wen belogen und getäuscht? — Vergleichen Sie unterschiedliche Lesarten in der dritten Strophe: „ich gebe dir was ich will“ – „ich gebe dir was ich will zurück“ – „ich gebe dir […] zurück was ich nicht will“ — Formulieren Sie eine Interpretationshypothese und begründen Sie diese anhand von Textstellen. — Interpretieren Sie die letzte Zeile: „Ich lebe.“ 4. Schritt: Kotexte und Kontexte einbeziehen Poetische Texte entstehen in einer geschichtlich, politisch und sozial konkreten Situation und sind verbunden mit geistesgeschichtlichen und literarischen Traditionen sowie mit Biografie und dem Werk bzw. mit anderen Texten der Autorin/des Autors. Nutzen Sie also Ihr Fachwissen und Ihr Allgemeinwissen (Weltwissen) für die Textinterpretation und nutzen Sie Informationen, die mit einer Aufgabenstellung im Rahmen der SRDP in einer Infobox mitgeliefert werden. Goethes Gedicht „Der König in Thule“ wird beispielsweise in der Tragödie „Faust“ von Gretchen gesungen und symbolisiert ihre Vorstellung von Liebe und ihres Geliebten. Eichendorffs Gedicht ist in die literarische Epoche der Romantik einzuordnen und zeigt typische Merkmale romantischer und Eichendorff’scher Lyrik. Der Philosoph Jürgen Safranski schreibt über Eichendorff: „Eichendorff ist kein Dichter der Heimat, sondern des Heimwehs, nicht des erfüllten Augenblicks, sondern der Sehnsucht, nicht des Ankommens, sondern der Abfahrt“ (Safranski 2007, S. 214). Steht ein derartiges Zitat in der Infobox, sollte es genützt werden. Erörtern Sie, inwieweit die Aussage Safranskis auch für das Gedicht „Das zerbrochene Ringlein“ zutreffend ist. Das Gedicht von Ulla Hahn kann gelesen werden als Beispiel für die Umkehrung von Geschlechterrollen: Nicht mehr die Frau ist die Verlassene und Leidende, sondern sie bestimmt aktiv ihre Rolle. Ü18 Ü19 Ü20 2 4 6 8 10 12 14 16 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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