sprachreif, Schreibkompetenztraining: Analytische und interpretatorische Textsorten
71 3. 3 — Textinterpretation Schritte zur Gedichtinterpretation 1. Schritt: Sicherung des Inhalts: Handlung, Situation, Thema, Motiv, Stoff Der erste Schritt zu einer gelungenen Gedichtinterpretation ist, sich ein grundlegendes Verständnis des Inhalts zu erarbeiten. Gedichte stellen dabei besondere Ansprüche, weil sie – bis auf Balladen – kaum eine Handlung aufweisen, sondern eher eine Momentaufnahme darstellen. Während Epik etwas erzählt und in einen Film übertragen werden kann, verdichtet das Gedicht Gedanken, Gefühle, Situationen, ja mitunter die ganze Welt auf ein Bild. Tatsächlich lässt sich ein Inhalt in Form einer Handlung nur für das Gedicht von Goethe wiedergeben. Aber auch hier müssen Sie eventuell bestimmte Begriffe oder sprachliche Muster klären. Besonders lyrische Sprache greift oft auf ältere Sprachformen zurück und nimmt sich auch Freiheiten in der Grammatik heraus. — Wortschatz: Lyrik verwendet oft ältere und stilistisch hochstehende Begriffe und Wendungen: Buhle statt Geliebter, Freundin; Schmaus, Mahl statt Essen; ihm sinken die Augen statt er stirbt … Veraltete oder kaum gebräuchliche Ausdrücke werden bei der SRDP im Rahmen der Aufgabenstellung angeführt. Sehr oft finden Sie diese Begriffe, wie z.B. Schmaus oder Zecher, auch im Österreichischen Wörterbuch. Schlagen Sie im Zweifel also nach. — Wortbildung: Der Vokal e kann in bestimmten grammatikalischen Formen weggelassen werden; meist wird dies durch ein Auslassungszeichen angezeigt: Städt’ statt Städte ; gold’nen statt goldenen ; zählt’ statt zähl- te … Ebenso kann in der Nachsilbe -ig das i weggelassen werden: blutge Schlacht … Andererseits erhalten Nomen im Dativ Singular die früher oft gebrauchte Endung -e : am Brunnen vor dem Tore; beim Mahle, im Saale, in einem kühlen Grunde … Ebenso tauchen besonders in älteren Gedichten Verbformen mit einem zusätzlichen -e auf: er trinket statt trinkt ; sie hat gewohnet statt gewohnt … — Satzgrammatik: Im Perfekt wird oft das Hilfszeitwort im Gliedsatz, wo es an letzter Stelle steht, weggelas- sen: Ich verzeihe mir jede Sekunde, die ich um dich geweint statt … geweint habe . Manchmal wird die übliche Wortstellung im Satz umgedreht (= Inversion), dies kann zur Hervorhebung des Umgestellten dienen: Die Augen gingen ihm über, so oft er trank daraus statt … so oft er daraus trank ; oder: Ich möcht’ als Spielmann reisen weit in die Welt hinaus statt Ich möchte als Spielmann weit in die Welt hinaus reisen. Kreuzen Sie die jeweils zutreffende Antwort an. Ü12 König in Thule Ring- lein Verzei- hung Dieses Gedicht erzählt am ehesten eine Geschichte. Dieses Gedicht erzählt zumindest eine Vorgeschichte. In diesem Gedicht kann die Vorgeschichte nur indirekt erschlossen werden. Geben Sie den Inhalt des Gedichts „Der König in Thule“ von Johann Wolfgang von Goethe wieder. Zu klären sind vielleicht noch die Wendungen „Die Augen gingen ihm über“ (der König weint) sowie „Die Augen täten ihm sinken“ (Der König schließt seine Augen, er stirbt). Weiters müssen Sie Zusammenhänge richtig herstellen: In der ersten Strophe ist auf den ersten Blick nicht klar, wer stirbt – der König oder seine Geliebte. Erst wenn man weiterliest, wird einem klar, dass der König noch lebt, seine Geliebte aber nicht mehr da ist. Die Dichtheit der Sprache zeigt sich auch in Zusammensetzungen wie „Vätersaale“: der Saal, in dem schon die Väter, also die Vorfahren saßen und tafelten. Wenn sich der Inhalt eines Gedichts nicht leicht erschließt, kann es helfen, wenn man den Text in übliche schriftliche Standardsprache und in Prosatextzeilen überträgt. Beispiel für die ersten beiden Strophen: In Thule gab es einen König, der bis zu seinem Tod treu war. Als seine Geliebte starb, gab sie ihm einen goldenen Becher. Es gab für ihn nichts, was über dem Becher stand, und bei jedem Essen trank er daraus; und jedes Mal, wenn er daraus trank, musste er weinen. TIPP Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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