sprachreif, Schreibkompetenztraining: Analytische und interpretatorische Textsorten

70 3. 3 — Textinterpretation unfähig mit Menschen sozial verträglich zu kommunizieren, unterhalten kann er sich nur mit der Natur bzw. einer Wiese, dort fühlt er sich aufgehoben wie in einer „grünen Woge“, vielleicht ist diese Kommunikations- unfähigkeit kombiniert mit Neigung zur Gewalt, wie das sadistisch-genüssliche Vernichtungsritual des Ungeziefers zeigt. Letztlich zeigt der Text aber die Verzweiflung, die aus der Situation des Eingesperrtseins hervorgeht, die Qual, die zu Zerstörung (Ungeziefer) und Selbstzerstörung (Kettenrauchen) führt. Die Sehnsucht nach Freiheit bzw. dem Freien ist „grenzenlos“. Der Abstumpfung durch das Eingesperrtsein wird der Drang nach Spüren, nach Berührung (durch Wind und Regen symbolisiert) gegenübergestellt. — Beurteilen Sie die literarische Qualität des Textes: Für einen jugendlichen Verfasser guter Einsatz von sprachlichen Bildern (Wiese, Ungeziefer, Schloss, Fenster …), geschickter Einsatz des personalen Erzählers, eine die Situation unterstützende Sprachführung; die Geschichte passiert nicht auf der Oberfläche, sondern muss durch die Auflösung der Bilder erschlossen werden. Als Schwäche könnte die allzu große Häufung an stilistischen Mitteln angeführt werden und die Neigung zum Pleonasmus (kleine Äuglein, trommelte heftig). Die Interpretation von lyrischen Texten Die für die Erschließung lyrischer Texte notwendigen Analysekriterien finden Sie auf S. 49. Lesen Sie die folgenden Gedichte von Johann Wolfgang von Goethe, Joseph von Eichendorff und Ulla Hahn. 3.3.5 – Johann Wolfgang von Goethe: Der König in ¢ule 1 (1774) Es war ein König in Thule, Gar treu bis an das Grab, Dem sterbend seine Buhle 2 Einen goldnen Becher gab. Es ging ihm nichts darüber, Er leert’ ihn jeden Schmaus 3 ; Die Augen gingen ihm über, So oft er trank daraus. Und als er kam zu sterben, Zählt’ er seine Städt’ im Reich, Gönnt’ alles seinen Erben, Den Becher nicht zugleich. Er saß beim Königsmahle, Die Ritter um ihn her, Auf hohem Vätersaale, Dort auf dem Schloß am Meer. Dort stand der alte Zecher 4 , Trank letzte Lebensglut, Und warf den heil’gen Becher Hinunter in die Flut. Er sah ihn stürzen, trinken Und sinken tief ins Meer, Die Augen täten ihm sinken, Trank nie einen Tropfen mehr. 1 Thule: sagenhafte Insel in der antiken Mytho- logie 2 Buhle: Geliebte (vgl. die Buhlschaft in Hofmanns- thals „Jedermann“) 3 Schmaus: ein gutes, reichliches Essen 4 Zecher: jemand, der trinkt : Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Jubiläumsausgabe. Hg. v. Friedmar Apel u. a. Darmstadt: Wissenschaªliche Buchgeselleschaª 1998, Bd. 1, S. 116 f. Joseph von Eichendor¤: Das zerbrochene Ringlein (1813) In einem kühlen Grunde Da geht ein Mühlenrad, Mein’ Liebste ist verschwunden, Die dort gewohnet hat. Sie hat mir Treu versprochen, Gab mir ein’n Ring dabei, Sie hat die Treu gebrochen, Mein Ringlein sprang entzwei. Ich möcht als Spielmann reisen Weit in die Welt hinaus Und singen meine Weisen Und gehn von Haus zu Haus. Ich möcht als Reiter fliegen Wohl in die blutge Schlacht, Um stille Feuer liegen Im Feld bei dunkler Nacht. Hör ich das Mühlrad gehen: Ich weiß nicht, was ich will – Ich möcht am liebsten sterben, Da wär’s auf einmal still! : Otto Conrady (Hg.): Lauter Lyrik. Der Kleine Conrady. Eine Sammlung deutscher Gedichte. Düsseldorf: Artemis & Winkler 2008, S. 237 Ulla Hahn: Verzeihung (1993) Ich verzeihe mir jede Sekunde die ich um dich geweint alle Tage Monate Jahre des Wartens das dich gemeint Ich verzeihe mir jede Lüge jede Täuschung die mich von dir entfernte ich glaubte aber ich näherte mich dir Ich verzeihe mir dich ich werde nichts verloren geben ich gebe dir was ich will zurück was ich nicht will Ich lebe. : Hahn, Ulla: Liebesgedichte. Stuttgart: DVA 1993 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 2 4 6 8 10 12 14 16 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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