sprachreif, Schreibkompetenztraining: Analytische und interpretatorische Textsorten

69 3. 3 — Textinterpretation Der Geruch von altem Schweiß. Der Geruch der Wonne. Der Geruch des Anstaltshofes. Diese wa­ ren leicht zu merken. Da saß er nun. rauchte sein Päckchen Zigaretten leer und blickte mit seinen kleinen Schwein­ säuglein durch die ölige Scheibe. Den Wind, der durch sein zerzaustes Haar fährt, den Regen, der auf seine salzige Haut pocht, wollte er spüren. Noch so lange. Zu lange. Große Ängste hatte er ausgestanden. Die Wiesen. Sie waren schön. Es tat ihm um nichts leid, er vermisste keinen, und ihn vermisste auch niemand. Aber die Wiesen. Mensch, die Wiesen. Natürlich hatte er die Wiese auch im Hof. Aber es war nicht dieselbe Wiese. Mit der anderen Wiese, seiner Wiese, konnte er sprechen. Er führte mit ihr sehr vielseitige Gespräche. Er lag in ihr, in der grü­ nen Woge, welche ihn verschlang, und sprach mit ihr über das Wetter. Wie es ihr ergehe, ihre Sorgen und Probleme. Aber sie unterhielten sich auch über Hungersnöte, Kriege. Die Wiese verstand ihn. Aber diese hier? Anfangs hatte er versucht, mit ihr zu sprechen. Sprach sogar im selben Dialekt wie mit der ande­ ren, seiner Wiese. Vergebens. Also blickte er nur mehr gegen die Betonmauer, die ja gar keine war, sondern grenzenlose Feme. So blickte er auf die Felder und Wiesen, welche nie aufhörten, und sprach nicht. Keine einzige Silbe. Die Schachtel Zigaretten war leer. Was tun? Wohin? Stumm und schwerfällig trottete er umher. Zer­ stampfte die Wanzen, Flöhe und Kakerlaken, ver­ wischte ihre Eingeweide quer über dem Zimmer­ boden, freute sich am Zerkrachen ihrer Köpfe, horchte und hoffte. Hoffte auf den gleichmäßigen, stechenden Schritt des Wärters, das Rasseln des Schlüsselbundes im Türschloß. Seinem Schloß. Das Schloß seiner Tür. Seines Raumes. Seiner Welt. Die Hoffnung, aus der kleinen abgeriegelten Welt in die größere Abgeschiedenheit zu gelangen. Die­ ses Überschreiten der Grenzen, der Demarkations­ linie zwischen diesen Welten, schien ihm so un­ heimlich spannend, bewegend und weitläufig. So groß war der Hof, in den er gehen würde, so groß, so weit, so unerreicht. Was waren Kontinen­ te, Berge, Seen, Wälder im Gegensatz zu diesem prächtigen; ganz flächig betonierten Hof… Der Regen trommelte heftig gegen das Fenster. Am liebsten wäre er jetzt ein Fenster. Ein großes. mit sauberen Scheiben, die funkeln. Ja, ein Fenster. : Der Standard, 02. 12. 2000 Patrick Kovacs: Grenzenlos (2000) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 Lesen Sie den folgenden Text aus der Tageszeitung „Der Standard“ vom 02. 12. 2000: Kommentierung der Aufgabe Dimension Aufgabenerfüllung aus inhaltlicher Sicht — Geben Sie einen Überblick über Inhalt, Thema und Motiv(e) des Textes: — Ein Jugendlicher ist in einer Anstaltszelle (Gefängnis? Psychiatrische Klinik?) eingeschlossen. Er sehnt sich nach der freien Natur, insbesondere nach (s)einer Wiese, mit der er sogar sprechen konnte. Zwar gibt es im (Anstalts-)Hof auch eine Wiese, aber die versteht ihn nicht. Zum Zeitpunkt der Geschichte ist der Jugendliche in seinem Zimmer (seiner Zelle?) eingesperrt, so dass ihm der Hof schon genügen würde und die ganze Welt bedeutete. Da er nicht ins Freie/in die Freiheit kann, wünscht er sich gegen Ende, wenigstens das Fenster zu sein, so könnte er zumindest den Wind und den Regen spüren. — Analysieren Sie die sprachlichen Besonderheiten des Textes: Überwiegend kurze Sätze, viele Ellipsen, direkter Einstieg (in medias res) in den Text durch drei anaphori- sche eingeleitete Ellipsen. Mitunter auch Einwortsätze: „Vergebens.“ Elliptische Fragen aus der Sicht des Jugendlichen: „Was tun? Wohin?“. Kurze Passagen des Erzählerberichts wechseln mit längeren Passagen des personalen Erzählers, der uns in die Innensicht des Jugendlichen führt. Lakonischen Stil, der auf die Hoff- nungslosigkeit des jugendlichen Insassen hinweist. Etliche Alliterationen und mehrmals Einsatz eines Trikolons. Verstärkung der Aussage und Wirkung durch das Stilmittel der Wiederaufnahme: „[…] das Rasseln des Schlüsselbundes im Türschloß. Seinem Schloß. Das Schloß seiner Tür. Seines Raumes. Seiner Welt.“ Hier in Verbindung mit einem Trikolon und mit einer Klimax der Öffnung nach außen (Türschloss – Tür – Raum – Welt). Damit Verstärkung der Hoffnung – aber auch der darauffolgenden Verzweiflung. Am Ende Konjunk- tiv II als Konjunktiv der Nichtwirklichkeit. — Verfassen Sie eine mögliche Interpretation: Ein Jugendlicher ist eingesperrt. Die Gründe können nur vermutet, also interpretiert werden. Vielleicht ist er Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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