sprachreif, Schreibkompetenztraining: Analytische und interpretatorische Textsorten

66 3. 3 — Textinterpretation Clemens J. Setz: Eine sehr kurze Geschichte (2012) Nach einem langen und harten Arbeitstag im Büro stell­ te Lilly fest, dass auf ihren Schulterblättern kleine Flügel gewachsen waren: schmutzig rosafarbene, verletzlich wirkende Hautgebilde, die wie Gelsenstiche juckten und sich von ihr mit einiger Willensanstrengung sogar ein wenig hin und her bewegen ließen. Vor lauter Angst schnitt sich Lilly die Flügel mit einer Schere ab und spül­ te sie im Klo hinunter. Sie überlegte, ob sie vielleicht nachwachsen würden, aber diese Sorge erwies sich als unbegründet. Die Flügel kamen nie mehr wieder, egal, wie lang und hart Lillys Arbeitstage auch waren, bis ans Ende ihres kurzen Lebens. : Clemens J. Setz: Die Liebe zur Zeit des Mahlstädter Kindes. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2012, S. 255. Abru°ar unter: http://multiplyme.wordpress.com/2012/07/29/eine-sehr-kurze-geschichte-clemens-j-setz/; 30. 12. 2014 Das folgende literarische Gespräch wurde von fünf Studierenden durchgeführt: — Wieso fällt Lilly „Nach einem langen und harten Arbeitstag“ auf, dass ihr Flügel wachsen? — Das kann ja eine Auswirkung der harten Arbeit sein. Vielleicht wird sie krank von der harten Arbeit, und sie stirbt ja dann bald. — Glaube ich nicht, Flügel sind doch etwas zum Wegfliegen. Also vielleicht wachsen ihr die Flügel, weil die Arbeit hart, uninteressiert oder sonst etwas in der Richtung ist. Mit den Flügeln kann sie der Arbeit vielleicht einmal entfliehen. — Aber wieso schneidet sie sich die dann weg? — Außerdem: die Flügel werden ja nicht positiv geschildert, die sind „schmutzig“ und dann jucken sie wie Gelsen- stiche. — Ein schöner Schmetterling ist zuerst auch eine Raupe, die ist auch nicht unbedingt schön. — Die will gar kein Schmetterling werden. — Wofür könnten die Flügel denn dann stehen? — Für die Regel, sie will nicht Frau werden, sie verweigert das, manche Mädchen enden dann in der Magersucht, die kann sogar tödlich enden: Am Ende steht, dass Lilly ein kurzes Leben hat. — Nein, das passt nicht. Lilly ist dafür zu alt, die arbeitet schon im Büro. — Vielleicht bekommt sie ein Kind, will es nicht, hat eine Fehlgeburt oder macht eine Abtreibung. — Und später will sie ein Kind, bekommt aber keines mehr. — Fast könnte man meinen, sie will dann doch wieder, dass die Flügel noch einmal wachsen, sie arbeitet total hart, aber egal wie hart, sie wachsen nicht; eigentlich schaut das so aus, als ob sie enttäuscht ist, dass sie nicht doch noch einmal wachsen. Vielleicht würde sie sie dann nicht mehr abschneiden, sondern wachsen lassen. — Und sie stirbt daran, dass die Hoffnung enttäuscht wird, dass die Flügel doch noch einmal nachwachsen? Das glaube ich nicht. — Und können die Flügel nicht einfach für Fantasie stehen? Sie könnte ausbrechen aus dem harten Büroalltag. Sie traut sich aber nicht. Sie hat Angst davor. Sie kann sich nur ihren Büroalltag vorstellen. — Ja, vielleicht wird ihr ein höherer Posten angeboten. Sie fühlt sich aber überfordert. — Fantasie? Vielleicht könnte sie sogar Dichterin werden. Sie schmeißt ihre Texte aber ins Klo. — Die Frau ist fürs Leben einfach zu schwach. Nicht nur die Flügelansätze waren „verletzlich wirkend“, sie ist insgesamt leicht verletzlich, zu sensibel. Sie zerbricht am Leben und stirbt. — Und deshalb heißt die Geschichte „Eine sehr kurze Geschichte“? — Außerdem ist es ja wirklich eine sehr kurze Geschichte. — Aber wieso die Flügel jucken, hat noch niemand gesagt. — Würde die Geschichte mit einem jungen Mann auch funktionieren? — … : Aufzeichnungen aus einer Seminarstunde. Gekürzt und in Standardsprache wiedergegeben. Nützen Sie z. B. für eine Textinterpretation im Rahmen einer Hausübung die Möglichkeit des literarischen Gesprächs. Setzen Sie sich mit einigen Kolleginnen und Kollegen zusammen und führen Sie ein 15-minütiges Gespräch. Notieren Sie dann die für eine schriftliche Interpretation relevanten Äußerungen. Halten Sie auch fest, was offen geblieben ist. Formulieren Sie die offenen Fragen auch in der Textinterpretation. Garantiert fällt Ihnen mit dieser Methode das Abfassen der Hausübung leichter und qualitätsvoll wird sie auch sein. — Bringen Sie sich in das oben abgedruckte literarische Gespräch nachträglich ein, indem Sie ergänzen, antworten, neue Fragen stellen, Gegenargumente bringen etc. — Versuchen Sie, für jede der im literarischen Gespräch geäußerten Meinungen einen Beleg im Text zu finden. — Verfassen Sie die folgende Schreibaufgabe. TIPP Ü8 2 4 6 8 10 12 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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