sprachreif, Schreibkompetenztraining: Analytische und interpretatorische Textsorten

62 3. 3 — Textinterpretation hen und die einzelnen Bildelemente in ihrem Zusammenhang sehen: Das linke Waschbecken ist groß, stabil, neuwertig und mit zwei Hähnen ausgestattet, das rechte ist klein und abgeschlagen. Die Waschbecken können als Symbol für Verteilung des Wohlstands zwischen Weiß und Schwarz gesehen werden: für jene das große, tadellose Waschbecken, für diese das kleine, abgenutzte. Die Installation der Waschbecken kann außerdem als Symbol für die Machtverteilung gesehen werden: Die rechte („COLOURED“) Waschmuschel wird vom linken („WHITE“) Waschbecken durch eine Zuleitung versorgt. In der Mitte der Leitung befindet sich ein Absperrhahn. Dreht man diesen zu, gibt es rechts kein Wasser. Schließlich kann auch die gebückte Haltung des „Farbigen“ als Symbol für die Situation der afroamerikanischen Bevölkerung in dieser Zeit gedeutet werden. Wählen Sie nun das linke Bild und verfassen Sie nach dem Muster des obigen Textes eine kurze Bildinterpreta- tion. Schreiben Sie zwischen 150 und 200 Wörter. Die Interpretation eines literarischen Textes erfolgt nach einem identischen Muster: Sie beschreiben die Inhaltsebene, betrachten dann einzelne Elemente des Textes in ihrem Verhältnis zueinander und leiten daraus die Bedeutungsebene, d. h. eine Interpretation ab. Stellen Sie sich Bilder vor, wenn Sie einen literarischen Text lesen. Man nennt das Vorstellungen bilden . Otfried Preußler, der Autor von „Räuber Hotzenplotz“ und „Krabat“, sagt dazu: „Der Leser muß […] Wörter und Sätze auch wieder in Bilder umsetzen – mehr noch: er muß sie für sich selber mit allen Sinnen wahrnehmbar machen. Er muß nicht nur sehen, wovon der Autor erzählt, er muß es auch hören, riechen und schmecken, mit Händen ertasten und mit dem Herzen nachfühlen. […] Er befindet sich gewissermaßen in der Rolle eines Regisseurs, dem mein Text als Drehbuch vorliegt und der meine Geschichte nun anhand dieses Drehbuchs für sich selber in Szene setzen muß.“ (Preußler 1998, S. 58 f.) : Otfried Preußler: Phantasie und Wirklichkeit. In: H. Pleticha (Hg.): Sagen Sie mal, Herr Preußler … Stuttgart: Thienemann 1998, S. 56–65. Zitiert nach: Kaspar H. Spinner: Literarisches Lernen. In: PRAXIS DEUTSCH, H. 200, S. 6–16, hier S. 8. Abrufbar unter: http://www.unioldenburg.de/fileadmin/user_upload/niederlandistik/download/Literatur/Spinner ,Kaspar_H_Literarisches_Lernen.pdf; 30. 12. 2014 Stellen Sie sich also Schauplätze, Landschaften, Gegenstände und Figuren vor, denken Sie an Geräusche und Gerüche und versetzen Sie sich in Stimmungen. Der folgende Text eignet sich besonders zur Bildung von Vorstellungen, weil ein Bild im Mittelpunkt steht. Lesen Sie den folgenden Text. Vergleichen Sie Ihre Vorstellungen beim Lesen mit verschiedenen Schlachtenge- mälden. Suchen Sie im Internet z. B. nach folgenden Werken: Albrecht Altdorfer: Alexanderschlacht; Francisco Goya: Die Schrecknisse des Krieges; Pablo Picasso: Guernica. Günter Kunert: Das Bild der Schlacht am Isonzo Auch der Maler war in der Schlacht gewesen; bald da­ nach fertigte er ein Gemälde an, auf dem er darstellte, was er gesehen hatte: Im Vordergrund lagen Sterbende, denen die Gedärme aus den aufgerissenen Leibern quol­ len, und Leichen, über die Pferde und Tanks wegge­ gangen, dass bloß blutiger Brei geblieben, geschmückt mit Knochensplittern. Dahinter stürmten die Soldaten der gegnerischen Heere aufeinander zu, in besudelten Uniformen, angstverzerrt die Gesichter. Im Hinter­ grund, unterhalb des Befehlsstandes, waren Offiziere da­ bei, Weiber zu schwängern, Kognak zu saufen und die Ausrüstung ganzer Kompanien für gutes Geld zu ver­ hökern. Dies war das Bild, und es hing im Atelier des Malers, als ein Besucher erschien, der sich porträtieren lassen wollte und durch Wesen und Benehmen sich als alter General zu erkennen gab. Er erschrak vor dem Bild. So sei die Schlacht nie gewesen, rief er, das Bild lüge! Sein blinzelnder Blick fuhr kreuz und quer das Werk ab und entdeckte dabei hinter dem zerschmetterten Schä­ del eines Toten eine kleine Gestalt, die trommelnd und singend und mit kühn verschobenem Helm aufs Schlachtfeld lief. Dieses Detail kaufte der General, ließ es aus dem Gemälde schneiden und einrahmen: Damit künftige Generationen sich ein Bild machen könnten von der großen Schlacht am Isonzo. : Günter Kunert: Tagträume in Berlin und andernorts. Kleine Prosa, Erzählungen, Aufsätze. München: Carl Hanser Verlag. 1972. Abrufbar unter: http://home.bn-ulm.de/~ulschrey/handl-prod-orient_lit-unt/sII-beisp_handl-prod-orient_lit-unt.pdf; 19. 12. 2014 Der Text von Günter Kunert ist eine Parabel, d. h. ein „Gleichnis mit selbständiger Handlung, in der eine Wahr- heit durch einen Vorgang aus einem anderen Vorstellungsbereich anschaulich gemacht wird.“ : Ivo Braak: Poetik in Stichworten. Kiel: Hirt 1980, S. 38 Ü3 TIPP Ü4 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Nur zu Prüfzweck n – Eig ntum des Verlags öbv

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