sprachreif, Schreibkompetenztraining: Analytische und interpretatorische Textsorten

60 3. 3 — Textinterpretation Verachteten und freuen sich, wenn ihm etwas misslingt. Im Falle seines Traumes ist das die Lösung eines Rechenbeispiels. Die feste Ordnung, in der der Vorzugsschü­ ler („dessen Leben mehr Methode hat als das Leben der Erwachsenen“) durch sein Wissen beim Lehrer und den Eltern anerkannt ist und das die übrige Klasse zur Kenntnis nehmen muss, gerät so aus den Fugen. Wenn die einzige Fähigkeit, gegen die die Klasse nicht ankann, versagt, dann bricht der Schutzdamm: Der Lehrer ver­ höhnt den Musterschüler. Er ist ein Musterexemplar jener Lehrkräfte, die nur auf einen Fehler warten und diesen dann unter Demütigung des Versagers vor der Klasse breittreten. Die Mitschülerinnen und Mitschüler können ihn nun unge­ hemmt körperlich erniedrigen. Es ist ein bekanntes psychologisches Phänomen, dass Menschen, die sich benachteiligt fühlen, auf die ihrer Meinung nach Schuldi­ gen hinhauen – oft im wahrsten Sinne des Wortes –, wenn diese am Boden liegen. So wurden auch in Konzentrationslagern kriminelle Kapos eingesetzt, die an Intel­ lektuellen ihre Wut ausließen. Was die Mitschülerinnen und schüler von ihrem Vorzugskameraden halten, zeigt sich auch daran, dass sie ihn in einen „Kanal“ sto­ ßen, ihn also als Abschaum behandeln. Die Geschichte hat zwei Handlungsebenen: Traumebene und Realitätsebene. Im Traum werden die Ängste des Vorzugsschülers offenbar. Wir wissen ja gar nicht, ob der Lehrer und die Mitschüler wirklich so handeln würden, wir nehmen ihre Reak­ tionen nur aus den Traumgespinsten des Vorzugsschülers wahr. Der Traum zeigt aber, wie wackelig sein Ordnungsrahmen ist. Dies zeigt auch die Realitätsebene: Indem er sich weigert, seinen Eltern den Traum zu erzählen, offenbart sich seine Furcht davor, dass der Traum wahr werden könnte. Was er vorher schon verdrängt hat und jetzt im Traum auftaucht, muss er ein zweites Mal verdrängen. Die Geschichte ist nicht nur für den Protagonisten höchst verstörend, sie ist es auch für die Lesenden. Dies liegt auch an ihrer sprachlichen Gestaltung. Sie wirkt umso irritierender, als sie in einem sachlichen Stil erzählt wird. Die ersten drei Sätze be­ ginnen jeweils mit dem Subjekt, wobei die drei handelnden Subjekte nacheinander genannt werden: „Der Vorzugsschüler …“, „Der Lehrer …“, „Die Mitschüler …“ Damit wird fast der Eindruck eines nüchternen Protokolls erweckt. Stellenweise wird die Sachlichkeit durch bürokratisches Vokabular verstärkt: „Schulaufgaben einverlangen“, „zur Rede stellen“, „vom Vorfall benachrichtigen“, „den Vorfall mel­ den“. Die Geschichte lebt also auch von der Spannung zwischen der Unerhörtheit des Vorfalls und der nüchternklaren, protokollarischen Sprache des neutralen Er­ zählers. Der Text ist insgesamt vielschichtig. Er zeigt die Psyche eines Typs von Vorzugs­ schüler, er kann aber auch als Parabel gelesen werden über unsere Ängste, wie schnell unser Leben aus dem Gleichgewicht kommen kann, Ordnung zusammen­ brechen und Gewalt ausbrechen kann. Als Lesende werden wir mit einem mulmigen Gefühl zurückgelassen. Wir können am Ende nicht wissen, ob der Vorzugsschüler mit seinen Ängsten umgehen kann. Vielleicht geht er ja am nächsten Tag nicht in die Schule, sondern macht kehrt, geht in den Park und … (652 Wörter) 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 Hauptteil: Erzählstruktur und ihre Interpretation Hauptteil: Analyse und Interpretation des Lehrerverhaltens Hauptteil: Anbindung an den Text; Textzitat Hauptteil: Analyse auffälliger Merkmale der Sprache und Interpretation ihrer Wirkung Hauptteil: Analyse und Interpretation des Verhaltens der Mit- schüler Hauptteil: Interpretation eines Teilaspekts Hauptteil: Analyse der Erzählstruktur Schluss: Wirkung auf die Leserinnen und Leser Schluss: Möglichkeiten der Interpretation als Fazit der bisherigen Ausführungen Hinweise zum Beispieltext Dieser Text ist eine typische Textinterpretation aufgrund folgender Kennzeichen: Inhalt: Diese Textinterpretation — informiert über die Kontextdaten (Autor, Titel, Textsorte, Entstehungsdatum) — gibt eine Zusammenfassung des Inhalts und nennt das Thema — verknüpft den Inhalt mit Alltags- und Weltwissen — analysiert auffällige Merkmale der Struktur, des Erzählers, der Figuren und der Sprache — verwendet die Analyse dieser Merkmale für eine Interpretation — weist auf mögliche Wirkungen auf die Lesenden hin. Gliederung: — In der Einleitung erfolgt eine Textbeschreibung — Im Hauptteil werden Analyse, Interpretation und Weltwissen miteinander verknüpft — Der Schluss fasst die Interpretationshypothese zusammen und gibt ein Urteil ab Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

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