sprachreif, Schreibkompetenztraining: Analytische und interpretatorische Textsorten

54 3. 2 — Die Textanalyse Zeigefinger und weiß nicht, was ich sagen soll. Der Punk ruft kein zweites Mal an, meine Haare geraten in Auflö­ sung. Die Revolution auf meinem Kopf sieht nicht rot oder lila aus wie bei meinen Altersgenossinnen – mich emanzipiert sie zum Weihnachtsengel. Offene Haare! Was bisher Feiertagsfrisur war, erlaube ich mir jetzt für immer, natürlich muß ich nun selber kämmen. Und was bei Botticelli paradiesisch aussieht, verklemmt sich unter den Riemen meines Schulranzens, lädt sich elektrisch auf, wenn ich einen Pullover über den Kopf ziehe, ver­ zwirbelt sich in unruhigen Nächten zu einem Filz. Für fünf selige Minuten im Fahrtwind hinten auf einem Moped reiße ich mir hinterher eine halbe Stunde am Schopf herum, und die ganz und gar unauflösbaren win­ zigen Knoten schneide ich schließlich nach klassischem Vorbild einfach ab. Einmal werde ich im Sommerurlaub ohnmächtig, als ich bei über dreißig Grad mit schiefem Kopf und einem wie der Hebel einer Maschine aufund abfahrenden Arm an der allmorgendlichen Herrichtung meiner Frisur arbeite. Hin und wieder verwünsche ich diese Haare inbrünstig, aber so inbrünstig, wie man nur Dinge verwünscht, auf die man sich verlassen kann. Kei­ nen Moment lang vergesse ich, daß meine Haare ein Schatz sind, in dem meine ganze Lebenszeit aufbewahrt ist, und bin geradezu besessen von der Idee, daß jemand sie mir im Schlaf abschneiden könnte. In blutigen Phan­ tasien male ich mir aus, wie ich den Schändling martern würde. Als ich sechzehn bin, verfängt sich der erste Mann in meinem Haar, und da, wie es scheint, haben die Fang­ schnüre ihren Zweck endlich erfüllt. Es wandelt mich eine Lust an, die ich bis dahin nicht kannte: diesen Flachs, der mir als Mädchen gewachsen ist, von mir zu trennen. Zum ersten Mal in meinem Leben gehe ich zu einem Friseur, der Friseur schneidet über einen halben Meter ab, das Haar fällt zu Boden, der Friseur kehrt es zusammen und wirft es in den Mülleimer. Als ich mit meinem Freund in den Herbstferien nach Hiddensee übersetze, bläst mir der Wind um den Kopf. Es gibt aber nichts mehr, das sich verwirren könnte. : Christine Hummel (Hg.): Kürzestgeschichten. Texte und Materialien für den Unterricht. Stuttgart: Reclam 2010 (Reclams Universal-Bibliothek 15064), S. 103–106. 1 Kronkorken: Verschluss einer Getränkeflasche 2 Der erste Mai; Tag der Arbeit, in etlichen Ländern gesetzlicher Feiertag 3 Plaste: Kunststoff Lösungsvorschlag für mögliche Einleitungssätze: Die deutsche Autorin Jenny Erpenbeck thematisiert in ihrer 2001 verfassten Erzählung „Haare“ den Entwicklungs- prozess einer jungen Frau. Die 2001 erschienene Erzählung „Die Haare“ der Autorin Jenna Erpenbeck behandelt den Werdegang einer jungen Frau von der Geburt bis zum Teenager. Diese Formulierungsmuster können Sie genauso für die Analyse von dramatischen und lyrischen Texten sowie Sachtexten übernehmen. — Folgende Verben werden in Einleitungssätzen immer wieder verwendet: thematisieren, handeln von, sich beschäftigen mit, sich auseinandersetzen mit, erörtern, der Frage nachgehen, veranschaulichen, aufzeigen, sich beziehen auf. — Eine Herausforderung beim Formulieren des Einleitungssatzes besteht darin, dass Sie während der Beschäf- tigung mit einem Text einen knapp gefassten verbindlichen Hinweis auf sein Thema geben sollen. Bei einfachen Texten wird Ihnen das leichtfallen, bei anderen – komplexen – wird es für Sie schwieriger sein. In einem solchen Fall könnten Sie den Einleitungssatz erst am Schluss niederschreiben. Dann sind Sie sich Ihrer Sache sicherer, weil Sie bereits mehr über den Text wissen und ihn besser verstanden haben. — Benennen Sie den zu behandelnden Text mit einem möglichst präzisen Gattungs-Begriff. Auf der sicheren Seite sind Sie, wenn Sie jene Bezeichnung übernehmen, die die Aufgabenstellung vorgibt: Kurzgeschichte, Kommentar, Dramenszene, Rezension … Müssen Sie selbst eine Kategorisierung vornehmen, hüten Sie sich vor allzu vagen Oberbegriffen wie „Buch“. Vertretbare Kompromisse stellen Wendungen wie „Sachtext“ oder das Nomen „Text“ in Kombination mit der jeweiligen literarischen Gattungsbezeichnung dar (z. B. „dramati- scher Text“). Verfassen Sie einen Einleitungssatz für eine Textanalyse des Kommentars „Zentralmatura: Reif am Tag X – und dann?“ von Lisa Nimmervoll (Ausgangstext: siehe Seite 39–40). Argumentation in einem Sachtext analysieren Die Textanalyse eines Sachtextes wird Sie sehr häufig zu der Frage nach der darin erkennbaren Argumentation und ihrer Qualität führen. TIPPS Ü9 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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