sprachreif, Schreibkompetenztraining: Analytische und interpretatorische Textsorten

53 3. 2 — Die Textanalyse — Zeitstruktur untersuchen — Ausgangs- und Endsituation eines Textes zueinander in Beziehung setzen Achten Sie auch auf den situativen Kontext. Dieser kann spezielle Vorgaben enthalten oder allgemein gehalten sein und von Ihnen verlangen, im Rahmen der Reifeprüfung hinsichtlich einer Textanalyse bestimmte Kompe- tenzen nachzuweisen. Im Anschluss an diese Überlegungen sollten Sie einen Schreibplan erstellen. Sie halten darin zuerst Thema und Aufgabenstellung fest. Anschließend überlegen Sie, was Sie zu dem jeweiligen Thema an Vorwissen einbringen, für welche Adressatin/welchen Adressaten Sie schreiben und welche Ziele Sie mit diesem Text verfolgen sollen. Sie werden die ersten Ideen sammeln und sich überlegen, wie Sie daraus eine sinnvolle Gliederung entwickeln. Hilfestellungen zum Sammeln und Strukturieren von Ideen finden Sie in: sprachreif. Schreibkompetenztraining 1 , S. 16 f. Einen Einleitungssatz für eine Textanalyse formulieren Der Einleitungssatz stellt den zu behandelnden Text vor, indem er den Namen der Autorin/des Autors, den Titel und das Thema nennt. Falls es Ihrer Einschätzung nach wichtig ist und der Text es zulässt, können Sie Hinweise auf den Schauplatz und die erzählte Zeit geben. Lesen Sie die Erzählung „Die Haare“ von Jenny Erpenbeck (2001). Formulieren Sie einen Einleitungssatz für eine Textanalyse. Jenny Erpenbeck: Haare (Erzählung, in Originalschreibung) Im Bauch meiner Mutter sind mir lange schwarze Haare gewachsen, die zu Berge stehen, als ich auf die Welt kom­ me. Es ist Frühling, und die Welt ist sehr hell. Ein schwarzes Haar nach dem andern kapituliert, fällt aus, fliegt davon, und überläßt blonden Geschwistern die Nachfolge auf meinem Kopf. Als ich drei Jahre alt bin, steckt mein Vater mir noch Zöpfe aus Gras an, aber bald kann man meine Haare schon in zwei Büscheln zusammenfassen. Rechts und links über den Ohren stehen diese Büschel in einem Bo­ gen von mir ab, wie Wasser, das aus einem Rohr kommt, entspringen sie einem Zopfhalter, der aussieht wie eine Kreuzung aus Margaritenblüte und Kronkorken 1 . Bis ich fünf Jahre alt hin, werden meine Haare also gewaschen, gebürstet und gebüschelt, manchmal sogar schon ge­ flochten. Warum es meiner Mutter ausgerechnet am Vorabend eines ersten Mai 2 einfallen muß, sie kurz zu schneiden, weiß inzwischen niemand mehr. Heraus zum ersten Mai! Im Radio spielen sie Blasmusik. Den abge­ schnittenen Zopf steckt meine Mutter zur Erinnerung in ein durchsichtiges Etui. Ich muß heraus zur Maidemons­ tration, aber zu Hause liegen fünfzehn Zentimeter von mir im gläsernen Sarg! An diesem Morgen defilieren Tausende an meinem kurz geschorenen Kopf vorüber, sie zeigen mir ihre Zähne, sie lachen, nein, sie lachen mich aus, die ganze Stadt beugt sich über mich und streicht mir über den Kopf und lacht mich aus, selbst die Fahnen lachen, sie neigen sich über mich und lassen in einzigartiger Bosheit ihr langes rotes Haar in Wellen auf mich herabfallen. Von diesem ersten Mai an will ich mindestens so dicke Zöpfe haben wie meine Cousine Heike. An deren Zöpfe kann sich rechts und links je ein Kind anhängen, dann dreht sie sich, und die Kinder fliegen. Meine Cousine Heike ist ein Karussell, ich will auch ein Karus­ sell werden. Zu dieser Zeit sind die Haarbürs­ ten mit den vielen ein­ zelnen Borsten aus Plaste 3 noch nicht er­ funden, und einige Jah­ re später, als sie im Westen schon erfunden sind, erfahren wir nichts davon. Mit einem Kamm dauert das Auskämmen nach dem Haarewaschen zwei Stunden. Zwei Stunden sitze ich auf einem Hocker im Bad, ein Handtuch um die Schultern, und halte meiner Mutter den nassen Kopf hin, während diese ihre schwere Maischuld abbüßt, mein Haar in Strähnen unterteilt und Strähne für Sträh­ ne entfilzt. Einmal pro Woche geben wir uns auf diese Weise der Wiederherstellung der Pracht hin, zum Glück ist zu dieser Zeit die tägliche Haarwäsche noch nicht er­ funden, und als sie imWesten schon erfunden ist, erfah­ ren wir nichts davon. Während eines knappen Jahr­ zehnts gehören nun zwei blonde Zöpfe zu mir, die in Schlangenlinien in der Luft herumfliegen, wenn ich auf dem Schulweg renne, weil ich schon wieder zu spät bin. Mit deren Enden ich die Schallplatten abputze, wenn ich den Lappen nicht finden kann. Aus denen ich im Som­ mer nach dem Baden das Wasser sauge. Ich knote die Zöpfe hinten ineinander, damit sie mir nicht über die frische Tinte wischen, klemme sie manchmal aus Verse­ hen ein, wenn ich eine Tür zu schnell hinter mir zuma­ che, und ich gehe mit diesen zwei Zöpfen zu meinem ersten Rendezvous. Der mir gefällt, trägt eine Leder­ jacke, die über und über mit Sicherheitsnadeln besteckt ist. Die Punks sind erfunden, aber ich habe nichts davon erfahren. Ich wickle mir die Quaste vom Zopf um den Ü8 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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