sprachreif, Schreibkompetenztraining: Analytische und interpretatorische Textsorten

41 3. 2 — Die Textanalyse Die Struktur eines literarischen Textes grafisch darstellen Literarische Texte lassen sich ebenfalls grafisch gewinnbringend erschließen. Wenn Sie Theodor Storms Novelle „Immensee“ lesen und ihren Aufbau analysieren, wird Ihnen die Rahmenkonstruktion sofort auffallen. Grafisch können Sie diese Form des Aufbaues deswegen mit Gewinn darstellen, weil Sie in den Rahmen nicht nur die Binnenhandlung augenfällig einpassen, sondern auch sehr leicht die zeitliche Dimension der Handlung verdeut- lichen können. Beispieltext: Theodor Storm: Immensee (1849) Beginn der Novelle (in Original-Schreibung) DER ALTE An einem Spätherbstnachmittage ging ein alter wohlge­ kleideter Mann langsam die Straße hinab. Er schien von einem Spaziergang nach Hause zurückzukehren; denn seine Schnallenschuhe, die einer vorübergegangenen Mode angehörten, waren bestäubt. Den langen Rohr­ stock mit goldenem Knopf trug er unter dem Arm; mit seinen dunklen Augen, in welche sich die ganze verlore­ ne Jugend gerettet zu haben schien, und welche eigen­ tümlich von den schneeweißen Haaren abstachen, sah er ruhig umher oder in die Stadt hinab, welche im Abend­ sonnendufte vor ihm lag. – Er schien fast ein Fremder; denn von den Vorübergehenden grüßten ihn nur weni­ ge, obgleich mancher unwillkürlich in diese ernsten Au­ gen zu sehen gezwungen wurde. Endlich stand er vor einem hohen Giebelhause still, sah noch einmal in die Stadt hinaus und trat dann in die Hausdiele. Bei dem Schall der Türglocke wurde drinnen in der Stube von ei­ nem Guckfenster, welches nach der Diele hinausging, der grüne Vorhang weggeschoben und das Gesicht einer alten Frau dahinter sichtbar. Der Mann winkte ihr mit seinem Rohrstock. „Noch kein Licht!« sagte er in einem etwas südlichem Akzent; und die Haushälterin ließ den Vorhang wieder fallen. Der Alte ging nun über die weite Hausdiele, dann durch einen Pesel 1 , wo große Eich­ schränke mit Porzellanvasen an den Wänden standen; durch die gegenüberstehende Tür trat er in einen kleinen Flur, von wo aus eine enge Treppe zu den oberen Zim­ mern des Hinterhauses führte. Er stieg sie langsam hi­ nauf, schloß oben eine Tür auf und trat dann in ein mä­ ßig großes Zimmer. Hier war es heimlich und still; die eine Wand war fast mit Repositorien 2 und Bücherschränken be­ deckt; an der anderen hingen Bilder von Men­ schen und Gegenden; vor einem Tische mit grüner Decke; auf dem einzelne aufgeschlagene Bücher umherlagen, stand ein schwerfäl­ liger Lehnstuhl mit rotem Sammetkissen. – Nachdem der Alte Hut und Stock in die Ecke gestellt hatte, setzte er sich in den Lehnstuhl und schien mit gefalteten Händen von seinem Spaziergange auszuruhen. – Wie er so saß, wurde es allmählich dunkler; endlich fiel ein Mondstrahl durch die Fensterscheiben auf die Gemälde an der Wand, und wie der helle Streif langsam weiter rückte, folgten die Augen des Mannes unwillkürlich. Nun trat er über ein kleines Bild in schlichtem, schwarzen Rahmen. „Eli­ sabeth!“ sagte der Alte leise; und wie er das Wort gespro­ chen, war die Zeit verwandelt – er war in seiner Jugend. DIE KINDER Bald trat die anmutige Gestalt eines kleinen Mädchens zu ihm. Sie hieß Elisabeth und mochte fünf Jahre zählen; er selbst war doppelt so alt. Um den Hals trug sie ein rotseidenes Tüchelchen; das ließ ihr hübsch zu den brau­ nen Augen. „Reinhard!“ rief sie; „wir haben frei, frei! den ganzen Tag keine Schule und morgen auch nicht.“ […] 1 Pesel: Hauptraum eines Hauses 2 Repositorium: Schrank für Ordner Das Ende der Novelle DER ALTE Der Mond schien nicht mehr in die Fensterscheiben, es war dunkel geworden; der Alte aber saß noch immer mit gefalteten Händen in seinem Lehnstuhl und blickte vor sich hin in den Raum des Zimmers. Allmählich verzog sich vor seinen Augen die schwarze Dämmerung um ihn her zu einem breiten, dunkeln See; ein schwarzes Gewässer legte sich hinter das andere, immer tiefer und ferner, und auf dem letzten, so fern, daß die Augen des Alten sie kaum erreichten, schwamm einsam zwischen breiten Blättern eine weiße Wasserlilie. Die Stubentür ging auf, und ein heller Lichtstrahl fiel ins Zimmer. „Es ist gut, daß Sie kommen, Brigitte“, sagte der Alte. „Stellen Sie das Licht nur auf den Tisch.“ Dann rückte er auch den Stuhl zum Tische, nahm eins der aufgeschlagenen Bücher und vertiefte sich in Studien, an denen er einst die Kraft seiner Jugend geübt hatte. Q : ¬eodor Storm: Immensee. In: ¬eodor Storm: Gesammelte Werke in 4 Bänden, hg. von Karl Ernst Laage und Dieter Lohmeier. Band 1: Gedichte/Novellen 1848–1867. Darmstadt: Wissenschaªliche Buchgesellschaª 1998, S. 295–296 und 327–328. 3.2.4 – 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 2 4 6 8 10 12 N r zu Prüfzwecken 2 – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=