sprachreif, Schreibkompetenztraining: Analytische und interpretatorische Textsorten

31 3. 1 — Die Zusammenfassung Gehirn hinterlassen. Damit war der Schritt getan von der Verhaltensforschung zur Hirnbiologie. Den Einfluss der Umwelt auf die Entwicklung des Gehirns haben die Amerikaner David Krech und David Rosenzweig von der University of California in Berkeley in den siebziger Jahren des vergange­ nen Jahrhunderts an Ratten nachgewiesen: Eine attraktive Umwelt und soziale Interaktion lassen die Verschaltungen zwischen den Neuronen der Großhirnrinde sprießen. Ödnis und Isolation hemmen die Entwicklung der Hirnrinde. Ihre Methode sei „ein bisschen hart“, sagt Braun mit der für sie typischen Mischung aus Pragmatis­ mus und Mitgefühl. Systematisch wird die Bezie­ hung zwischen Eltern und Kind unterbrochen und gestört. Denn kaum sind die Rattenkinder auf der Welt, schlägt das Schicksal in Form einer gummi­ behandschuhten Hand zu und setzt sie in ein Kist­ chen: dreimal täglich für eine Stunde Isolations­ haft. Dort „schmoren sie dann“, hören und riechen ihre Anverwandten, aber sehen sie nicht – jeglicher Kontakt ist unterbunden. „Das ist Stress für die Tiere“, sagt Anna Katharina Braun – die solche Experimente nicht ungern auch einmal ihren Mitarbeitern überlässt. Und tatsäch­ lich: Die Vernachlässigung wirkt sich auf das Ge­ hirn aus. Anders als Krech und Rosenzweig vor mehr als dreißig Jahren konzentrierte sich Braun bei ihren Untersuchungen nicht auf die Hirnrinde, sondern auf das limbische System 3 tief im Innern des Gehirns. Bei den „deprivierten 4 Rättchen“ fand sie Veränderungen in dieser Hirnregion, die für Emotionen, Lernen und Gedächtnis zuständig ist. Die Gehirnzellen der isolierten Tiere waren in die­ ser Region viel intensiver verschaltet als bei Art­ genossen, die ungestört in ihrer Familie aufwuch­ sen. Ein auf den ersten Blick verwirrender und den Da­ ten von Krech und Rosenzweig widersprechender Befund. Schließlich hatten die vernachlässigten Tiere weniger Reize von außen zu verarbeiten und deswegen auch weniger Verschaltungen zwischen Zellen zu knüpfen. Aber zur Hirnentwicklung ge­ hört nicht nur, dass Verbindungen geschaffen und durch Reizverarbeitung verstärkt werden, sondern auch, dass sie reduziert werden. Das sei wie bei einem Bildhauer, der etwas weg­ schlagen müsse, damit sich aus der rohen Stein­ masse ein Kunstwerk schälen kann, erklärt Braun: „Auch das Gehirn ist ein solches Kunstwerk, und wenn zu viele Verknüpfungen bestehen bleiben, dann rauscht es wie bei einer übersteuerten Stereo­ anlage.“ Auch bei Schizophreniepatienten 5 habe man festgestellt, dass sie zu viele Synapsen 6 haben. Aber nicht nur die Synapsenzahl gerät bei den ge­ stressten Rattenkindern aus dem Gleichgewicht, auch die Chemie zwischen den Zellen ist gestört. So genannte Neurotransmitter 7 übertragen ein Sig­ nal von einer Zelle in die nächste. Wenn es dabei um Gefühle geht, dann tritt vor allem der Trans­ mitter Dopamin auf den Plan – ein Stoff, der of­ fenbar für intensive Emotionen zuständig ist. Braun hat einen Versuch durchgeführt, bei dem die kleinen Strauchratten vom achten Lebenstag an zweimal täglich einzeln für drei Minuten aus dem Elternnest herausgenommen wurden und das drei Tage hintereinander – eine „relativ milde Depriva­ tionssituation“ also. Eine andere Gruppe wurde genauso behandelt, allerdings konnten sie wäh­ rend dieser Zeit ihre Mutter hören. Braun fand, dass bei der ersten Gruppe auch einige Tage nach der Vernachlässigung noch wesentlich mehr Dopamin fließt als bei Tieren, die behütet auf­ wachsen: „Dass selbst so kleine Störungen der­ artige Auswirkungen haben, hat uns überrascht.“ Überraschend war auch, dass von den Tieren, die in der Einsamkeit ihre Mutter hören konnten, sich nur die Weibchen von der Stimme beruhigen lie­ ßen, bei ihnen wurde der DopaminAusstoß her­ untergeregelt. Die männlichen Strauchratten aber blieben untröstlich, trotz Mutters Stimme. Woran das liegt, weiß Anna Katharina Braun noch nicht. Eine ihrer Studentinnen erforscht das Phänomen derzeit. Der wichtige Befund für Braun ist: Emo­ tionale Vernachlässigung verändert das Gehirn nachweisbar. Und was heißt das für den Menschen? „Das heißt“, sagt Braun, „dass ich den Frust vieler klinischer Psychologen gut verstehen kann.“ Viele psychische Erkrankungen sind mit Gesprächstherapien nicht zu behandeln. Medikamente stellen den Patienten zwar ruhig, heilen ihn aber nicht. Wenn man ge­ nau wüsste, was in den Hirnen vernachlässigter Kinder abläuft und was davon der Mensch bis ins Erwachsenenalter mitnimmt, wenn klar wäre, wel­ che Fehlschaltung im Gehirn dazu führt, dass der ausgewachsene Mensch, irgendwann, urplötzlich, psychisch krank wird – „vielleicht kann man da ja doch irgendwann eingreifen und das Gehirn wie­ der auf normal drehen“? Anna Katharina Braun gerät ins Träumen. „Schreiben Sie das lieber nicht, das sind Utopien!“ Eben die Utopien sind es, die ihre Arbeit antreiben. Viele kleine neurobiologische Ergebnisse in inter­ nationalen Fachjournalen publizieren, das ist ihr nicht genug. Anna Katharina Braun geht es um die Vision. Und diese Vision fasziniert auch andere. Manchmal mehr, als der Biologin lieb ist. „Die Psy­ chologen rennen mir die Bude ein“, sagt sie, und auch immer mehr Lehrer wollten ganz genau wis­ 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 148 150 152 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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