sprachreif, Schreibkompetenztraining: Argumentative und appellative Textsorten
81 3. 5 — Meinungsrede Beispieltext für eine Meinungsrede Das folgende Beispiel stammt aus dem Jahr 2011. Es handelt sich um die Rede, die der Schweizer Globalisie- rungskritiker Jean Ziegler bei der Eröffnung der Salzburger Festspiele halten wollte, d. h. vor einem großteils wohlhabenden Publikum. Obwohl er ausgeladen wurde, gelangte die Rede an die Öffentlichkeit. Ziegler kritisiert darin die großen Konzerne und wirft ihnen Mitverantwortung für das auf der Welt herrschende wirtschaftliche Ungleichgewicht vor. Jean Ziegler: Der Aufstand des Gewissens Sehr verehrte Damen und Herren, alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 37.000 Menschen ver- hungern jeden Tag und fast eine Milliarde sind permanent schwerstens unterer- nährt. Und derselbe World-Food-Report der FAO, der alljährlich diese Opferzah- len gibt, sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos das Doppelte der Weltbevölkerung normal ernähren könnte. Schlussfolgerung: Es gibt keinen objektiven Mangel […]. Ein Kind, das an Hunger stirbt, wird ermordet. Gestorben wird überall gleich. Ob in den somalischen Flüchtlingslagern, den Elendsvierteln von Karachi oder in den Slums von Dhaka, der Todeskampf erfolgt immer in denselben Etappen. Bei unterernährten Kindern setzt der Zerfall nach wenigen Tagen ein. Der Körper braucht erst die Zucker-, dann die Fettreserven auf. Die Kinder werden lethargisch, dann immer dünner. Das Immunsystem bricht zu- sammen. Durchfälle beschleunigen die Auszehrung. Mundparasiten und Infektio- nen der Atemwege verursachen schreckliche Schmerzen. Dann beginnt der Raubbau an den Muskeln. Die Kinder können sich nicht mehr auf den Beinen halten. Ihre Arme baumeln kraftlos am Körper. Ihre Gesichter glei- chen Greisen. Dann folgt der Tod. Die Umstände jedoch, die zu dieser tausendfachen Agonie führen, sind vielfältig und oft kompliziert. Ein Beispiel: die Tragödie, die sich gegenwärtig (Juli 2011) in Ostafrika abspielt. In den Savannen, Wüsten, Bergen von Äthiopien, Djibouti, Somalia und Tarkana (Nordkenia) sind 12 Millionen Menschen auf der Flucht. Seit fünf Jahren gibt es keine ausreichende Ernte mehr. Der Boden ist hart wie Beton. Neben den trocke- nen Wasserlöchern liegen die verdursteten Zebu-Rinder, Ziegen, Esel und Kamele. Wer von den Frauen, Kindern, Männern noch Kraft hat, macht sich auf den Weg in eines der vom UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge und vertriebene Personen eingerichteten Lager. Zum Beispiel nach Dadaad, auf kenianischem Boden. Dort drängen sich seit drei Monaten über 400.000 Hungerflüchtlinge. Die meisten stammen aus dem benach- barten Südsomalia, wo die mit Al-Quaida verbundenen fürchterlichen Chebab-Mi- lizen wüten. Seit Juni treten täglich rund 1500 Neuankömmlinge aus demMorgen- nebel. Platz im Lager gibt es schon lange nicht mehr. Das Tor im Stacheldrahtzaun ist geschlossen. Vor dem Tor führen die UNO-Beamten die Selektion durch: Nur noch ganz wenige – die, die eine Lebenschance haben – kommen hinein. Das Geld für die intravenöse therapeutische Sondernahrung, die ein Kleinkind, wenn es nicht zu sehr geschädigt ist, in 12 Tagen ins Leben zurückbringt, fehlt. Das Geld fehlt. […] Warum? Weil die reichen Geberländer – insbesondere die EU-Staaten, die USA, Kanada und Australien – viele tausend Milliarden Euro und Dollars ihren einhei- mischen Bank-Halunken bezahlen mussten: zur Wiederbelebung des Inter- 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 Direkter Einstieg: Aufrüttelung des Publikums durch drastisches Beispiel Beispiel für eine Tragödie Anrede Veranschaulichungen durch detailreiche Darstellungen Beispiel für eine weitere Tragödie; dadurch Effekt der Verstärkung Bennennung einer konkreten Ursache; rhetorisches Mittel der Wiederholung. Frage nach der Ursache; Beantwortung durch Erläuterung der Ursache Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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