Deutsch – Mündliche Reifeprüfung, Maturatraining

2. 14 — Literaturmarkt und Lesekultur macht keine Schwierigkeiten. Welch ein Leben, welch ein Schicksal! So sieht die Musterbiografie einer vorzüglich integrierten jungen Vorzeigeda- me aus. Dagegen gibt es nichts zu sagen, wenn sie nicht einen Roman geschrieben hätte, für dessen Beurteilung all diese Begleitumstände eines Le- bens egal sein müssen. Was zählt, ist der Text und nicht das zum Rührstück aufbereitete, auf Aben- teuer getrimmte Dichterdasein. Im Mittelpunkt des Romans steht Mascha, eine Spielfigur der Autorin. Die junge Frau lebt in Frankfurt mit Elias zusammen – einem schönen, begabten, jungen Mann. Eine Idylle sozusagen. Doch sogleich ziehen düstere Wolken auf. Elias erleidet einen Unfall, kommt ins Krankenhaus, wo er unter Schmerzen stirbt. Nichts ist mehr wie zuvor, Mascha bringt keinen Fuß mehr auf den Boden und geht nach Israel, wo sie einen Überset- zerposten annimmt. Das wird in einem Realismus chronologischer Ordentlichkeit vorgebracht. Was hat Mascha eigentlich mitbekommen von den Unruhen in Bergkarabach, möchte Elias einmal wissen, und er wird abgespeist mit einer Episo- de von vierzehn Zeilen. Als Kind musste Mascha sehen, wie eine Frau von einem Scharfschützen niedergestreckt wurde, „und die Schuhspitzen des Kindes färbten sich rot.“ Jetzt wissen wir, warum die Familie emigrierte. Für ein Buch, das bebt vor politischen Spannungen und Menschen zur Emigration nötigt, reicht das nicht. Das aber genügt Grjasnowa, die einfühlsam und traurig vorgeht und politische Brisanz in eine existen- zielle Grundbefindlichkeit verwandelt. Deshalb ist es gleichgültig, ob wir uns in Aserbaidschan, Deutschland oder Israel befinden, in jeden Fall stellt die Autorin das leidende Individuum aus, das von Gewalt wie von einer Naturmacht über- rascht wird. Manchmal wird Grjasnowa aber ganz schön deut- lich. Dann lebt sie ihre Neigung aus, Schlüssel­ szenen zu erfinden. Dann schwärzt sie Personen, die sie nicht mag, gern an. Horst, der Vater von Elias, ist ihr zutiefst suspekt, das muss er büßen. Er holt Kisten mit dem Besitz seines verstorbenen Sohnes ab: „Eine breite Gestalt, ein grobes Gesicht und ein grausamer Zug um seinen Mund. Die Hände waren vor Wut zu Fäusten geballt, und in seinen Augen lag kompromissloser Hass. Ich hatte Angst vor ihm.“ So bangt eine, die vor einem Bür- gerkrieg geflohen ist und dafür keineWorte findet. Sie befindet sich nicht allein mit diesem Wüterich in der Wohnung, sondern Cem, „betont höflich, wie immer“, passt auf sie auf. Und wie sieht die Wohnung von so einemWüterich aus? Sie gibt das Muster eines deutschen Biedermanns ab und ist vollgeräumt mit dem Symbol ästhetischer Verwir- rung schlechthin, mit Kuckucksuhren. Von dieser Subtilität ist der Grjasnowa‘sche Realismus. Dazu passt eine andere Schlüsselszene in einem Buch voller Schlüsselszenen. Mascha und Cem streiten während einer Autofahrt und verursachen einen kleinen Auffahrunfall. Das ist Anlass, den deut- schen, faschismusanfälligen Charakter vorzu- führen. Der Unfallgegner entpuppt sich als echter Spießer und packt seinen landesüblichen frem- denfeindlichen Sprachschatz aus. Er beschimpft Cem als „Kanaken“ und hält ihm vor, dass er auf Deutschlands Straßen nur Gast sei. Und dann diese grauenhaften Dialoge, wenn es um Politik geht. „Irgendwie hattest du recht. Was Israel macht, ist wirklich nicht in Ordnung. Ge- rade jetzt wäre es doch eine schöne Geste, die be- setzten Gebiete zurückzugeben.“ Irgendwie! Irgendwie sollte man auch einer jungen Autorin nicht alles durchgehen lassen. Es wäre schön ge- wesen, hätte man ihr das in Leipzig oder Klagen- furt mitgeteilt. quelle : Anton Thuswaldner: Die Hochgelobte. In: Salzburger Nachrich- ten, 30. 06. 2012, S. VI. 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 Zusatzinformation Worterklärung: Entréebillet (frz.): Eintrittskarte, Ticket. Tipps für die Weiterarbeit: Recherchieren Sie die Stichwörter: Literaturbetrieb, Buchmarkt. Lesen Sie in den Wochenendbeilagen der österreichischen Qualitätszeitungen Rezensionen. Markieren Sie am Rand: Inhalt, Interpretationshypothesen, Urteil. Vergleichen Sie unterschiedliche Rezensionen zum selben Buch und stellen Sie die Gemeinsamkeiten und Unter­ schiede fest. Lesen Sie das in einer Rezension besprochene Buch und beurteilen Sie danach die Rezension. Buchtipp: Brigitte Schwens-Harrant: Literaturkritik. Eine Suche. Innsbruck: Studienverlag 2008. Vgl. auch das Stichwort „Literaturkritik“ auf: http://www.buecher-wiki.de/index.php/BuecherWiki/Literaturkritik ; 22. 06. 2013. TIPP . 58 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des V rlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=