Deutsch – Mündliche Reifeprüfung, Maturatraining

2. 11 — „Gender“ und Geschlechterrollen 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 ich konnte es deutlich fühlen. Zugleich aber spürte ich, wie es mir auf meinem Gesicht mißlang. Es war der erste, ganz kurze Anfall von Verwirrung. Das kann ja heiter werden, sagte ich halblaut und ging mich duschen, wobei ich mit meinem neuen Körper Bekanntschaft, ja Freundschaft schloß, denn als Mann war ich genauso ansehnlich, wohlgestaltet und gesund wie als Frau. Eine häßliche Person hätten wir, um un- sere Methode nicht in Mißkredit zu bringen, zu diesem Versuch auch nicht zugelassen … Ressentiments? Doktor Rüdiger war der Erste, der mir Ressentiments vorwarf. Aber vorher hatte er seinen Spaß an meiner Anekdote über die ‚Kleine von neben- an‘, die ich am Morgen im Fahrstuhl getroffen und, da sie mich anseufzte, gefragt hatte, was ihr denn fehle. Worauf ich einen Blick erhielt, der einen Regenwurm zum Manne gemacht hätte. Bloß daß die allerange- nehmsten Empfindungen in mir nicht zu ihrer vollen Entfaltung gelangten wegen des weiblich-spöttischen Gedankens: Sieh mal an, es funktioniert! – Darum er- zähle ich das. Sie sollen nicht denken, Ihr Mittel hätte in irgendeinem und gerade in diesem allerwichtigsten Punkt versagt. Ich bin es gewesen, ich: die Frau, die mit Spott oder Empfindlichkeit oder einfach durch Unge- duld die männlichsten Triumphe des Herrn Anders sabotierte. Ich: die Frau, habe ihn gehindert, der ‚Klei- nen von nebenan‘ ihr Handtäschchen aufzuheben (war ‚ich‘ nicht die Ältere?), Fehler auf Fehler gehäuft, bis der Blick der Kleinen zuerst ungläubig, dann eisig wurde. Ja, mein Lieber – so sprach Doktor Rüdiger jetzt mit mir – nun folgen die Tage der Rache. Über meinen Verlust hat er sich eigent- lich schnell getröstet. Er fand mich passabel und wollte erst den Reaktionstest hinter sich bringen, der eindeutig bewies, daß meine Sinne brav weiter so reagierten, wie meine subjektiv genormte Skala es erwarten ließ. Blau war für mich blau geblieben, und eine Flüssigkeit von 50 Grad heiß, und die dreizehn verschiedenen sinn- losen Gegenstände auf unserem Versuchstisch konnte ich mir nicht schneller merken als vorher, was Rüdi- ger leicht zu enttäuschen schien. Beim Ergänzungstest dann, als manche meiner neuen Antworten sich von den alten unterschieden, wurde er lebhaft. Der Verlust an Spontaneität erklärte hinreichend die verlängerten Zeiten: Sollte ich als Frau antworten? Als Mann? Und wenn als Mann: Wie denn, um Himmels- willen? So daß ich schließlich auf ‚rot‘ nicht ‚Liebe‘ sagte, wie sonst immer, sondern ‚Wut‘. Auf ‚Frau‘ nicht ‚Mann‘, sondern ‚schön‘. Auf ‚Kind‘ ‚schmutzig‘ anstatt ‚weich‘, und auf ‚Mädchen‘ nicht ‚schlank‘, sondern ‚süß‘. Olala, sagte mein Freund Rüdiger, ganz schön schon, mein Lieber. quelle : Christa Wolf: Selbstversuch. In: Wolfgang Menzel und Jürgen Fröhlich: 66 „unentbehrliche“ literarische Texte. Ausgewählt, befragt, kommentiert und zum Lesen empfoh- len von Wolfgang Menzel und Jürgen Fröhlich. Braunschweig: Westermann 2003. S. 378 f. 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 Zusatzinformation Fräulein Else: Die 1924 erschienene Novelle ist ein Werk der Wiener Moderne und gewährt einen kritischen Einblick in das Leben der privilegierten Schicht dieser Zeit. Else zerbricht schließlich an den unangemessenen Forderungen, die an sie gestellt werden, und kann sich nur durch eine Überdosis Schlaftabletten „retten“. Ob sie daran stirbt, bleibt offen. Worterklärungen: Veronal: starkes Schlafmittel, heute nicht mehr im Handel; Mündelgelder: Geld eines Mündels, meist einer bzw. eines Minderjährigen, das von einem Vormund verwaltet wird; defraudieren: veraltet für betrügen, unterschlagen. am beispiel paula (1975): Die österreichische Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek (geb. 1946 in Mürz­ zuschlag/Stmk) setzt sich in diesem Romanausschnitt mit den stark eingeschränkten Möglichkeiten von einfa­ chen Arbeiterinnen auseinander, durch eigene Kraft ihre wirtschaftliche und persönliche Lage zu verbessern. Selbstversuch (1972): Christa Wolf (1929–2011), gilt als eine der bedeutendsten Schriftstellerinnen der ehe­ maligen DDR. Nach der Wende wurden ihre persönliche Einstellung zur Politik in der DDR und ihre Arbeiten recht kontrovers diskutiert. Tipps für die Weiterarbeit: Zur Theorie der Novelle finden Sie vermutlich Unterlagen in Ihrer Schulbibliothek bzw. in Ihrem Sprachbuch. Als sehr gute Vorbereitung für die Arbeit mit Novellen bieten sich Heinrich von Kleists „Bettelweib von Locarno“ (Kurztext) und Stefan Zweigs „Schachnovelle“ (längerer Text) an. Wichtige Informationen zur Autorin Elfriede Jelinek und ihren Werken finden Sie unter der Homepage des Wiener Elfriede-Jelinek-Forschungszentrums der Universität Wien: http://www.elfriede-jelinek-forschungszentrum.com/index.php?id=33; 18. 06. 2013. Als „Einstiegslektüre“ von Christa Wolf empfiehlt sich besonders die Erzählung „Kassandra“, die die Geschichte des Trojanischen Krieges aus der Perspektive der Königstochter und Seherin Kassandra zeigt. TIPP . 48 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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