Deutsch – Mündliche Reifeprüfung, Maturatraining

2. 11 — „Gender“ und Geschlechterrollen 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 de mich mit Fred beraten. Er ist der einzige, der mich wirklich gern hat. Aber so weit bin ich ja noch nicht. Ich bin nicht in Wen, ich bin noch in Martino di Castrozza. Noch nichts ist geschehen. Also wie, wie, was? Da ist das Telegramm. Was tue ich denn mit dem Telegramm? Ich habe es ja schon gewußt. Ich muß es ihm auf sein Zimmer schicken. Aber was sonst? Ich muß ihm etwas dazu schreiben. Nun ja, was soll ich ihm schreiben? Er- warten Sie mich um zwölf. Nein, nein, nein! Den Tri- umph soll er nicht haben. Ich will nicht, will nicht, will nicht. Gott sei Dank, daß ich die Pulver da habe. Das ist die einzige Rettung. Wo sind sie denn? Um Gottes wil- len, man wird sie mir doch nicht gestohlen haben. Aber nein, da sind sie ja. Da in der Schachtel. Sind sie noch alle da? Ja, da sind sie. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs. Ich will sie ja nur ansehen, die lieben Pulver. Es ver- pflichtet ja zu nichts. Auch daß ich sie ins Glas schütte, verpflichtet ja zu nichts. Eins, zwei, – aber ich bringe mich ja sicher nicht um. Fällt mir gar nicht ein. Drei, vier, fünf – davon stirbt man auch noch lange nicht. Es wäre schrecklich, wenn ich das Veronal nicht mit hätte. Da müßte ich mich zum Fenster hinunterstürzen und dazu hätt ich doch nicht den Mut. Aber das Veronal, – man schläft langsam ein, wacht nicht mehr auf, keine Qual, kein Schmerz. Man legt sich ins Bett; in einem Zuge trinkt man es aus, träumt, und alles ist vorbei. Vorgestern habe ich auch ein Pulver genommen und neulich sogar zwei. Pst, niemandem sagen. Heut wer- den es halt ein bißl mehr sein. Es ist ja nur für alle Fälle. Wenn es mich gar zu sehr grausen sollte. Aber warum soll es mich denn grausen? Wenn er mich anrührt, so spucke ich ihm ins Gesicht. Ganz einfach. Aber wie soll ich ihm denn den Brief zukommen lassen? Ich kann doch nicht dem Herrn von Dorsday durch das Stuben- mädchen einen Brief schicken. Das Beste, ich gehe hin- unter und rede mit ihm und zeige ihm das Telegramm. Hinunter muß ich ja jedenfalls. Ich kann doch nicht da heroben im Zimmer bleiben. Ich hielte es ja gar nicht aus, drei Stunden lang – bis der Moment kommt. Auch wegen der Tante muß ich hinunter. Ha, was geht mich denn die Tante an. Was gehen mich die Leute an? Sehen Sie, meine Herrschaften, da steht das Glas mit dem Ve- ronal. So, jetzt nehme ich es in die Hand. So, jetzt führe ich es an die Lippen. Ja, jeden Moment kann ich drüben sein, wo es keine Tanten gibt und keinen Dorsday und keinen Vater, der Mündelgelder defraudiert. quelle : Arthur Schnitzler: Fräulein Else. Novelle. Stuttgart: Reclam. 2002. S. 56–58. 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 Text 2: Elfriede Jelinek: am beispiel paula (1975) (Rechtschreibung im Original) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 am beispiel paula. paula ist vom lande. das landleben hat sie bis jetzt im schach gehalten – ebenso wie ihre schwestern erika und renate, die verheiratet sind. die beiden kann man schon abschreiben, es ist genauso, als ob sie nicht auf der welt wären. mit paula ist das anders, sie ist die jüngste von ihnen und noch nicht richtig auf der welt. sie ist 15 jahre alt. sie ist jetzt alt genug, um sich überlegen zu dürfen, was sie einmal werden möchte: hausfrau oder verkäuferin. verkäuferin oder hausfrau. in ihrem alter sind alle mädchen, die so alt sind wie sie alt genug, um sich zu überlegen, was sie einmal werden wollen. die hauptschule ist beendet, die männer im dorf sind entweder holzarbeiter oder sie werden tischler, elektriker, spengler, maurer oder sie gehen in die fabrik oder sie versuchen tischler, elektriker, spengler, maurer oder fabrikarbeiter und gehen dann doch in den wald und werden holzarbeiter. die mäd- chen werden ihre frauen. der jäger ist ein besserer beruf, er wird von auswärts importiert. lehrer und pfarrer gibt es nicht, das dorf hat keine kirche und keine schule, auch der intelligenzberuf des konsum-filialleiters wird von auswärts importiert, unter ihm arbeiten immer drei frauen und mädchen aus dem dorf und ein lehr- mädchen aus dem dorf. die frauen bleiben bis zu ihrer heirat verkäuferin oder hilfsverkäuferin, wenn sie geheiratet worden sind, ist es aus mit dem verkaufen, dann sind sie selbst verkauft, und die nächste verkäuferin darf an ihre stelle rücken und weiterverkaufen, der wechsel geht fliegend vor sich. so ist im laufe der jahre ein natürlicher kreislauf zu- standegekommen: geburt und einsteigen und geheiratet werden und wieder aussteigen und die tochter kriegen, die hausfrau oder verkäuferin, meist hausfrau, tochter steigt ein, mutter kratzt ab, tochter wird geheiratet, steigt aus, springt ab vom trittbrett, kriegt selber die nächste tochter, der konsumladen ist die drehscheibe des natürlichen kreislaufs der natur […] quelle : Elfriede Jelinek: Die Liebhaberinnen. Roman. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt 1999, S. 14 f. 22 24 26 28 30 32 34 36 Text 3: Christa Wolf: Selbstversuch (1972) (Text in alter Rechtschreibung) 2 4 Wie immer stellte ich mich oben sofort an mein großes Fenster. Im Schrank nebenan hingen die Anzüge eines Mannes, im Bad lagen eines Mannes Toilettensachen. Ich aber stand und suchte mit dem Blick der Frau das Fenster ihres Arbeitszimmers, das zu meiner Genug- tuung als einziges in der langen Front des Institutsge- bäudes erleuchtet war, dann aber, als sei das Licht bei mir ein Signal für Sie gewesen, schnell dunkel wurde. Da suchte ich, anders, das Lächeln zustande zu bringen, über das ich als Frau verfügt hätte. Es war noch in mir, 6 8 10 47 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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