Deutsch – Mündliche Reifeprüfung, Maturatraining

2. 10 — Interkulturalität und Transkulturalität in der Gegenwartsliteratur Text 1: Was bedeutet es, in der Fremde zu schreiben? Um diese Frage zu beantworten, müssen einige offensichtliche, logische und sehr einfache Bedin- gungen erfüllt werden. Aber nicht alles, was für den Verstand einfach ist, ist auch einfach für den Körper. Also, um in der Fremde schreiben zu können, muss man in der Fremde leben. Eine logische, für den Verstand sehr einfache Bedingung. Um in der Fremde leben zu können, muss man aber zuerst in die Fremde gelangen. Eine genauso logische, aber für den Körper sehr anstrengende Bedin- gung. (Von dieser Analyse ausgeschlossen sind natürlich all jene, die im Besitz des, von Brodski in seinen Dostojewski Analysen so genannten, fünften Elements sind, also des Geldes. Für sie spielen geografische Bedingungen, Entfernungen und Grenzen keine bedeutende Rolle. Sie gehen mit Raum und Zeit anders um.) Um in der Fremde zu schreiben, muss man also zuerst mit vielen Menschenschmugglern verhan- deln und die richtigen wählen. Wenn es beim ersten Mal nicht klappt, entwickelt man zumin- dest ein gutes Gespür für Menschen, Situationen und Währungen. Oder man verzichtet auf die Schmuggler und geht eigene Wege. Das ergibt dann Folgendes. Um in der Fremde zu schreiben, muss man über Grenzzäune springen oder darunter durchkrie- chen, egal, ob es schneit oder regnet, man muss schneller als die Grenzpolizisten zweier Länder sein, in manchen Fällen ist auch Schwimmpraxis erforderlich; und man sollte in dunklen, unbe- kanntenWäldern auf keinen Fall die Orientierung verlieren, am besten habe man einen Kompass bei sich und vertraue nicht so sehr der Intuition, oder den Schulgeografiekenntnissen, denn wie könnte es in der Fremde auch anders sein, auch ihre Wäl- der, Felsen und Flüsse sind fremd. Ist man nun endlich in der Fremde, muss man den kürzesten Weg zum Lager finden, denn es mag sein, dass es nicht einfach ist, in die Fremde zu gelangen, aber noch schwieriger ist es, in der Fremde zu bleiben. Weil die Fremde eine Eigenschaft hat, die seltsa- merweise von den meisten Fremde-Analytikern nicht sehr beachtet, gar übersehen wird. Dabei ist sie ihre grundlegendste, ihre charakteristischste Eigenschaft überhaupt. Die Fremde kann dich ab- schieben. Was in der Heimat die Verbannung ist, ist in der Fremde die Abschiebung. Nur dass man viel leichter abgeschoben als verbannt werden kann. Kurz und einfach gesagt, ist die eigentliche Fremde jener Ort, von wo man jederzeit abge- schoben werden kann. (Wie man sich fühlt, oder was man getan hat, ist nur sekundär, es reicht zum Beispiel, wenn man nicht in eine Quote fällt.) Also um in der Fremde schreiben zu können, muss man zuerst durchs Lager, man muss in Zimmern mit 20 oder mehr, selten weniger Betten über- nachten und die heimatliche Unterwäsche (oft sind das nicht mehr als zwei Unterhosen) so lange tragen, bis man Arbeit beziehungsweise Geld ge- funden hat. Leider ist der Großteil der Menschheit auf der Suche nach einem von beiden. Nur dass für einen Flüchtling das eine genauso absolut ist wie das andere. Um in der Fremde zu schreiben, sollte man wei- ters in Parks, unter Brücken, in abgestellten Zü- gen oder in öffentlichen Toiletten, zwischen Rat- ten, Vögeln und Menschen übernachten können und trotzdem Arbeit finden. Man sollte also be- dingungslos bereit sein zu schaufeln, zu sägen, zu schneiden, zu schieben, zu schweißen, zu strei- chen, zu schwitzen, zu servieren, zu meißeln, zu heben, zu tragen, zu kleben, zu malen, zu putzen, zu bauen, zu klettern, zu fahren, zu räumen, zu pumpen, zu bohren, zu hämmern, zu kochen, zu waschen und vor allem zu suchen und zu fragen. In der Fremde zu schreiben, bedeutet, zu schrei- ben, nachdem man zehn Stunden gearbeitet oder acht Stunden Arbeit gesucht hat. In der Fremde zu schreiben bedeutet oft, ohne Familie, ohne Verwandte, ohne Freunde, ohne Heim, ohne Halt, ohne Papiere, ohne Meldezettel, ohne Arbeits- und ohne Aufenthaltsbewilligung zu schreiben. Es bedeutet, auch dann zu schrei- ben, wenn man keine Bestätigung seiner Existenz hat. In der Fremde zu schreiben, bedeutet, denselben Himmel, dieselbe Sonne, dieselben Sterne, densel- ben Mond wie die Einheimischen anzuschauen, dieselbe Luft wie sie einzuatmen, derselben Natur, aber nicht denselben Landesgesetzen unterworfen zu sein. Und was für den Arbeitsmarkt gilt, gilt auch im Bereich der Literatur. Wieso auch nicht? Auch Literatur ist Arbeit. Also sind die meisten Lite- raturstipendien, genau wie die Arbeitsplätze, an die Staatsbürgerschaft gekoppelt. Die Herkunft des Autors ist wichtiger als seine Sprache. So tut man sich auch leichter bei den Entscheidungen. Die Frage, woher man kommt, ist viel leichter zu 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 Dimitré Dinev: In der Fremde schreiben. Es ist ein weiter Weg in die Fremde und ein noch längerer von der Hand bis zur Feder (2004) 42 Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des Verlags öbv

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