Deutsch – Mündliche Reifeprüfung, Maturatraining

2. 8 — Wesentliche Entwicklungen der Weltliteratur 102 104 106 108 110 112 verstehen, dass Ihnen nicht erlaubt werden kann, sie zu sehen, nein, unter keinen Umständen. Folglich habe ich darum gebeten, dass man sie hinter diesem Laken aufstellt. Dort steht sie, wie es sich für ein braves Mäd- chen gehört.“ Ein hitziger Ton hatte sich in Doktor Aziz‘ Stimme geschlichen. „Ghani Sahib, sagen Sie mir, wie ich sie untersuchen soll, ohne sie anzusehen!“ Ghani hörte nicht auf zu lächeln. „Sie werden freundlicherwei- se im Einzelnen anführen, welcher Teil meiner Tochter der Untersuchung bedarf. Ich werde ihr dann den Be- fehl erteilen, den verlangten Körperteil gegen das Loch zu halten, das Sie hier sehen. Und auf diese Weise mag die Sache dann durchgeführt werden.“ „Aber über was für Beschwerden klagt die Dame ei- gentlich?“, – mein Großvater war der Verzweiflung nahe. Worauf Herr Ghani, dessen Augen sich in ihren Höhlen nach oben drehten und dessen Lächeln sich zu einer Grimasse des Kummers verzerrte, entgegne- te: „Das arme Kind! Es hat schreckliche, wirklich zu fürchterliche Magenschmerzen.“ „In diesem Fall“, sagte Doktor Aziz mit einiger Selbstbeherrschung, „wird sie mir bitte ihren Magen zeigen.“ quelle : Salman Rushdie: Mitternachtskinder. Reinbeck bei Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag, 2013 10 , S. 31 ff. 114 116 118 120 122 Zusatzinformation Der indisch-britische Schriftsteller Salman Rushdie wurde 1947 als Sohn eines wohlhabenden Geschäftsmannes in Bombay (heute Mumbai) geboren und studierte in England. Internationale Aufmerksamkeit erlangte er 1981 mit dem Roman „Mitternachtskinder“, für den er mit dem angesehenen Booker-Preis ausgezeichnet wurde. Für sein 1988 erschienenes Werk „Die satanischen Verse“ wurde Rushdie vom iranischen Staatschef Khomeini durch eine Fatwa (= islamisches Rechtsgutachten) zum Tode verurteilt, weil das Buch als islamfeindlich eingestuft wurde. Der Schriftsteller erhielt Todesdrohungen und lebte jahrelang unter Polizeischutz. 2007 wurde er von Königin Elisabeth II. zum Ritter geschlagen. Heute lebt der Schriftsteller in den USA und zählt zu den wichtigs­ ten Vertretern der zeitgenössischen Literatur. Wichtige Personen des Romans: Saalem Sinai: Hauptfigur, Ich-Erzähler Dr. Aadam Azis: Arzt, Saalems Großvater Naseem Ghani: spätere Frau von Dr. Azis, der sie durch ein Loch untersuchen muss Sahib (arab. für Besitzer): meist Anrede für „Herr“ Tipps für die Weiterarbeit: Unter http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_Indiens (30. 06. 2013) finden Sie viele Hinweise zur Geschichte Indiens im 20. Jahrhundert, die wichtiges Hintergrundwissen für die Deutung des Romans liefern. Das Buch, das lange Zeit als unverfilmbar galt, wurde 2012 von der indischen Regisseurin Deepa Mehta verfilmt; Rushdie hat dazu das Drehbuch verfasst. Filmrezensionen finden Sie unter: http://www.film-zeit.de/Film/23037/MITTERNACHTSKINDER/Kritik/; 30. 06. 2013. TIPP . Lösungsmöglichkeiten: ― Goethes Begriff von „Weltliteratur“ im Vergleich mit „Nationalliteratur“: Nationalliteratur: die Literatur einer einzigen Nation, die eventuell Gefahr läuft, in zu engem Umfeld zu bleiben und Entwicklungen außerhalb der eigenen Grenzen nicht wahrzunehmen. Goethe sieht in der Weltliteratur das Verbindende der Poesie, die es schafft, allgemein mensch­ liche Phänomene darzustellen, auch wenn der kulturelle Hintergrund fremd ist; sie führt zu einem universellen Austausch unter den Kulturen (universelle Sprache der Poesie). ― Anwendung dieser Definition auf Salman Rushdies Roman „Die Mitternachtskinder“/kulturelle Prägung der handelnden Figuren: Der Ausschnitt zeigt das Zusammenprallen der traditionellen indischen Kultur mit ihren alten Wertvorstellungen (z.B. die Stellung der Frau, die Bedeutung ihrer Tugendhaftigkeit …) mit modernen (westlichen) Vorstellungen: Der Arzt kann die Frau mit der verlangten Vorgehens­ weise nicht nach seinen medizinischen Maßstäben untersuchen. Der Roman, der die Ge­ schichte Indiens im 20. Jahrhundert anhand einiger Einzelschicksale nachzeichnet, verdient in mehrfacher Hinsicht die Bezeichnung „Weltliteratur“: Er trägt zur Wissensvermittlung über unterschiedliche Kulturen bei, spiegelt die politische und soziale Entwicklung eines Landes auf 38 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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