Deutsch – Mündliche Reifeprüfung, Maturatraining

2. 8 — Wesentliche Entwicklungen der Weltliteratur Text 2: Salman Rushdie: Mitternachtskinder (1981) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 Zum Inhalt: Der Ich-Erzähler Saleem Sinai wird am 15. August 1947, dem Tag der indischen Unabhängigkeit, exakt um Mitternacht geboren. Alle „Mitternachtskinder“ sind mit wunderbaren Eigenschaften ausgestattet: manche haben Rie- senkräfte, können durch die Zeit reisen oder sich unsichtbar machen. Saleem kann in die Herzen und Gedanken anderer Menschen eindringen. Die Familiengeschichte der Sinais ist eng mit der indischen Zeitgeschichte verknüpft und Saleem selbst wird in viele Konflikte des Subkontinents verstrickt. Die Verknüpfung von Realität und Mythos in diesem Roman wird auch als „Magischer Realismus“ bezeichnet. Das Haus war luxuriös, aber schlecht beleuchtet. Gha- ni war Witwer und das nutzten die Dienstboten deut- lich aus. In den Ecken hingen Spinnweben und auf den Simsen lag der Staub in dicken Schichten. Sie gingen einen langen Flur entlang; eine der Türen stand offen und dahinter sah Aziz einen Raum in ungezügelter Unordnung. Dieser flüchtige Blick und dann noch ein Glitzern des Lichts auf Ghanis dunkler Brille enthüll- ten Aziz mit einem Mal, dass der Grundbesitzer blind war. Das verstärkte sein Gefühl des Unbehagens: ein Blinder, der behauptete, europäische Gemälde zu schät- zen? Er war aber auch beeindruckt, weil Ghani nichts angerempelt hatte … Vor einer massiven Teakholztür blieben sie stehen. Ghani sagte: „Warten Sie hier zwei Sekunden!“, und ging in das Zimmer hinter der Tür. In späteren Jahren schwor Doktor Aziz, dass er in jenen zwei Sekunden der Einsamkeit in den finsteren Fluten voller Spinnweben im Herrenhaus des Grundbesitzers von dem fast unkontrollierbaren Verlangen gepackt wurde, umzukehren und wegzulaufen, so schnell die Beine ihn trugen. Das Rätsel des blinden Kunstliebha- bers hatte ihn entnervt, sein Inneres war als Ergebnis des heimtückischen Giftes von Tais Gemurmel mit winzigen krabbelnden Insekten erfüllt, seine Nasenlö- cher juckten so sehr, dass er überzeugt war, sich eine Geschlechtskrankheit geholt zu haben, und er spürte, wie seine Füße sich so langsam, als steckten sie in Stie- feln aus Blei, zu wenden begannen; er spürte das Blut in den Schläfen pochen, und das Gefühl, an einem Punkt zu stehen, an dem es kein Zurück mehr gab, wurde so übermächtig, dass er beinahe in seine deutsche Wollho- se machte. Ohne es zu wissen, errötete er heftig, und in diesem Stadium erschien ihm seine Mutter; sie saß vor einem niedrigen Pult auf dem Boden und ein Hautaus- schlag zog sich wie Schamröte über ihr Gesicht, als sie einen Türkis gegen das Licht hielt. Das Gesicht seiner Mutter spiegelte nun die ganze Verachtung des Fähr- manns Tai wider. „Geh, geh, lauf“, sagte sie ihm mit Tais Stimme. „Mach dir keine Sorgen um deine arme alte Mutter.“ Doktor Aziz merkte, wie er stotterte. „Was für einen unnützen Sohn du hast, Amma. Kannst du nicht sehen, dass mitten in mir ein Loch ist, groß wie eine Melone?“ Seine Mutter lächelte gequält. „Du warst schon immer ein herzloser Junge“, seufzte sie und ver- wandelte sich dann in eine Eidechse auf der Flurwand und streckte ihm die Zunge heraus. Doktor Aziz hörte auf, sich schwindelig zu fühlen, wusste nicht recht, ob er tatsächlich laut gesprochen hatte, fragte sich, was er mit dieser Sache mit dem Loch meinte, merkte, dass seine Füße nicht mehr zu entkommen versuchten, und erkannte, dass er beobachtet wurde. Eine Frau mit dem Bizeps eines Ringers starrte ihn an und winkte ihm, ihr ins Zimmer zu folgen. Der Zustand ihres Saris machte ihm klar, dass sie eine Dienerin war, aber sie war nicht unterwürfig. „Sie sehen grün aus wie ein Fisch“, sag- te sie. „Ihr jungen Ärzte. Kommt in ein fremdes Haus und eure Leber verwandelt sich in Gallert. Kommen Sie, Doktor Sahib, Sie werden erwartet.“ Seine Tasche eine Spur zu fest umklammernd, folgte er ihr durch die dunkle Teakholztür. … In ein geräumiges Schlaf- zimmer, das genauso schlecht beleuchtet war wie das übrige Haus, wenn hier auch durch ein fächerförmiges Fenster hoch oben in einer Wand staubige Sonnen- strahlen durchsickerten. Diese verstaubten Strahlen illuminierten eine Szene, die bemerkenswerter war als alles, was der Doktor je erlebt hatte: ein Tableau von solch unwahrscheinlicher Fremdartigkeit, dass es seine Füße wieder zur Tür zog. Zwei weitere Frauen, eben- falls wie Berufsringer gebaut, standen unbeweglich im Licht und jede hielt mit hoch über den Kopf erhobenen Armen eine Ecke eines riesigen weißen Lakens, sodass es wie ein Vorhang zwischen ihnen hing. Herr Ghani tauchte aus der Düsternis auf, die das sonnenbeschie- nene Laken umgab, und erlaubte dem verdutzten Aa- dam, vielleicht eine halbe Minute lang das absonder- liche Bild anzustarren. Nach deren Ablauf machte der Doktor, ohne dass ein Wort gesprochen worden war, eine Entdeckung: Genau in die Mitte des Betttuchs war ein annähernd rundes Loch mit einem Durchmes- ser von ungefähr fünfzehn Zentimetern geschnitten. „Mach die Tür zu, Ayah“, befahl Ghani der ersten der Ringerinnen und wurde dann, sich an Aziz wendend, vertraulich. „Diese Stadt beherbergt viele Tunichtgute, die bei Gelegenheit versucht haben, ins Zimmer meiner Tochter zu klettern. Sie braucht“, er nickte in Richtung der drei muskelstrotzenden Frauen, „Beschützerinnen.“ Aziz betrachtete immer noch das Laken mit dem Loch. Ghani sagte: „Nun gut, machen Sie schon, untersuchen Sie meine Naseem auf der Stelle. Pronto.“ Mein Groß- vater spähte im Raum umher. „Aber wo ist sie, Ghani Sahib?“, stieß er schließlich hervor. Die Ringerinnen setzten eine geringschätzige Miene auf und, so schien es ihm, strafften ihre Muskeln für den Fall, dass er versuchen sollte, irgendwelche Kapriolen zu machen. „Aha, ich sehe Ihre Verwirrung“, sagte Ghani mit brei- ter werdendem boshaften Lächeln. „Ihr aus Europa zu- rückgekehrten Kerlchen vergesst gewisse Dinge. Dok- tor Sahib, meine Tochter ist ein anständiges Mädchen, das versteht sich von selbst. Sie stellt ihren Körper nicht unter der Nase fremder Männer zur Schau. Sie werden 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 37 Nur zu P üfzwecken – Eigent m des Verlags öbv

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