Deutsch – Mündliche Reifeprüfung, Maturatraining

2. 7 — Kanonische Texte ― Textstruktur, Figurenkonstellation und auffällige sprachliche Mittel: Der Text besteht aus rea­ len und surrealen Elementen (z. B. Kälte während des Kriegswinters einerseits/Ritt auf einem Kübel andererseits usw.). Er beginnt mit einer Aneinanderreihung von Ellipsen (= unvollstän­ digen Sätzen), die in rascher Folge – und an Intensität der Aussage zunehmend – die Not des Ich-Erzählers schildern: „Verbraucht alle Kohle; leer der Kübel; sinnlos die Schaufel; […] der Himmel, ein silberner Schild gegen den, der von ihm Hilfe will.“ Der Kohlenhändler wird als Retter gesehen – sprachlich zur „Sonne am Firmament“ gesteigert –, die im starken Kontrast zum Ich-Erzähler steht: „Bettler, […] röchelnd vor Hunger […]“. Mit einer Schaufel Kohlen könnte er ein Leben retten, für das ihm ohne Erklärung die Verantwortung zugeschrieben wird („Du sollst nicht töten!“) – ein religiöses Gebot, das zu anderen religiösen Anspielungen kommt (z. B. Himmel). Trotz der Vorkehrungen, die der Ich-Erzähler in der Art des inneren Monologs zur Darstellung seiner Not trifft („Meine Auffahrt schon muß es entscheiden; ich reite deshalb auf dem Kübel hin“), scheitert die Kommunikation zwischen den Figuren: die räumliche und menschliche Distanz ist zu groß („außergewöhnlich hoch schwebe ich vor dem Kellergewölbe des Händlers, in dem er tief unten an seinem Tischchen kauert“, „Ich höre gar nichts“, sagt die Frau“). Die direkten Reden verfehlen ihre eigentliche Funktion. Im vorletzten Absatz taucht dreimal das Wort „nichts“ auf und besiegelt das Scheitern des Ich-Erzählers. Gegensatz Wärme – Kälte (Umdrehung: unten in der Hölle brennt das Feuer (Kohle!) = behaglich. Oben, im Himmel, die Eiseskälte …) ― Das Kafkaeske im Kübelreiter: („angsttraumhaft, skurril, undurchschaubar“): Das dargestellte Leid aufgrund der Kälte wird ausgedehnt auf ein umfassendes Bedrohungsszenarium (Hunger, keine Möglichkeit zur Kommunikation, Ich-Erzähler wird nicht wahrgenommen, Hilferufe ver­ hallen ungehört, Scheitern …). Sozialkritisches steht neben grotesken Erscheinungen; alptrau­ martiges Geschehen; Paradoxien – Nebeneinander von Realem und Phantastischem. Vieles bleibt unerklärt – z. B. der Ritt auf dem Kübel, das Nicht-gehört-Werden. Kafkas Texte lassen meist viele Interpretationen zu (soziologisch, biographisch, religiös, psychoanalytisch, autopoie­ tisch …) und verschließen sich einer eindeutigen Zuordnung. ― Beurteilung der Kanonfrage: Der Literaturkritiker Reich-Ranicki spricht von „empfehlenswerter Literatur, unterhaltend […], gute Literatur versus minderwertige Literatur[…], leichte Les­ barkeit“, angewendet auf den Kübelreiter: „Unterhaltung“ als Ausdruck des Interesses an der Einzigartigkeit/Rätselhaftigkeit/Vielschichtigkeit von Kafkatexten, die ihm als einzigem Schrift­ steller ein eigenes Adjektiv eingebracht haben. Realität in Kombination mit Surrealem bringt eine große Fülle von Ausdrucksmöglichkeiten und Interpretationshypothesen, die niemals abgeschlossen werden können. Alptraumhafte Schilderungen Kafkas berühren die Leser/innen u. U. aufgrund eigener Angsterfahrungen. Den „Spaß“ an der Literatur (im Sinne von lustig- unterhaltsam) kann man bei der Lektüre dieses Textes nicht festmachen. Verwendete Sekundärliteratur: Reinhard Meurer: Franz Kafka. Erzählungen (= Oldenbourg Interpretationen Nr. 18. Hrsg. Klaus Michael Bogdal und Clemens Kammler. München 3 1999). 35 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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