Deutsch – Mündliche Reifeprüfung, Maturatraining

2. 7 — Kanonische Texte 18 20 22 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 scheidet; ebenso muß mir der Händler, wütend, aber unter dem Strahl des Gebotes „Du sollst nicht töten!“ eine Schaufel voll in den Kübel schleudern. Meine Auffahrt schon muß es entscheiden; ich reite deshalb auf dem Kübel hin. Als Kübelreiter, die Hand oben am Griff, dem einfachsten Zaumzeug, drehe ich mich beschwerlich die Treppe hinab; unten aber steigt mein Kübel auf, prächtig, prächtig; Kamele, niedrig am Boden hingelagert, steigen, sich schüttelnd unter dem Stock des Führers, nicht schöner auf. Durch die festge- frorene Gasse geht es in ebenmäßigem Trab; oft werde ich bis zur Höhe der ersten Stockwerke gehoben; nie- mals sinke ich bis zur Haustüre hinab. Und außerge- wöhnlich hoch schwebe ich vor dem Kellergewölbe des Händlers, in dem er tief unten an seinem Tischchen kauert und schreibt; um die übergroße Hitze abzulas- sen, hat er die Tür geöffnet. „Kohlenhändler!“ rufe ich mit vor Kälte hohlgebrann- ter Stimme, in Rauchwolken des Atems gehüllt, „bitte, Kohlenhändler, gib mir ein wenig Kohle. Mein Kübel ist schon so leer, daß ich auf ihm reiten kann. Sei so gut. Sobald ich kann, bezahle ich‘s.“ Der Händler legt die Hand ans Ohr. „Hör ich recht?“ fragte er über die Schulter weg seine Frau, die auf der Ofenbank strickt, „hör ich recht? Eine Kundschaft.“ „Ich höre gar nichts“, sagt die Frau, ruhig aus- und ein- atmend über den Stricknadeln, wohlig im Rücken ge- wärmt. „O ja“, rufe ich, „ich bin es; eine alte Kundschaft; treu ergeben; nur augenblicklich mittellos.“ „Frau“, sagt der Händler, „es ist, es ist jemand; so sehr kann ich mich doch nicht täuschen; eine alte, eine sehr alte Kundschaft muß es sein, die mir so zum Herzen zu sprechen weiß.“ „Was hast du, Mann?“ sagte die Frau und drückt, einen Augenblick ausruhend, die Handarbeit an die Brust, „niemand ist es, die Gasse ist leer, alle unsere Kund- schaft ist versorgt; wir können für Tage das Geschäft sperren und ausruhn.“ „Aber ich sitze doch hier auf dem Kübel“, rufe ich und gefühllose Tränen der Kälte verschleiern mir die Au- gen, „bitte seht doch herauf; Ihr werdet mich gleich entdecken; um eine Schaufel voll bitte ich; und gebt Ihr zwei, macht Ihr mich überglücklich. Es ist doch schon alle übrige Kundschaft versorgt. Ach, hörte ich es doch schon in dem Kübel klappern!“ „Ich komme“ sagt der Händler und kurzbeinig will er die Kellertreppe emporsteigen, aber die Frau ist schon bei ihm, hält ihn beim Arm fest und sagt: „Du bleibst. Läßt du von deinem Eigensinn nicht ab, so gehe ich hi- nauf. Erinnere dich an deinen schweren Husten heute nacht. Aber für ein Geschäft und sei es auch nur ein ein- gebildetes, vergißt du Frau und Kind und opferst deine Lungen. Ich gehe.“ „Dann nenn ihm aber alle Sorten, die wir auf Lager ha- ben; die Preise rufe ich dir nach.“ „Gut“, sagt die Frau und steigt zur Gasse auf. Natür- lich sieht sie mich gleich. „Frau Kohlenhändlerin“, rufe ich, „ergebenen Gruß; nur eine Schaufel Kohle; gleich hier in den Kübel; ich führe sie selbst nach Hause; eine Schaufel von der schlechtesten. Ich bezahle sie natürlich voll, aber nicht gleich, nicht gleich.“ Was für ein Glo- ckenklang sind die zwei Worte „nicht gleich“ und wie sinnverwirrend mischen sie sich mit dem Abendläuten, das eben vom nahen Kirchturm zu hören ist! „Was will er also haben?“ ruft der Händler. „Nichts“, ruft die Frau zurück, „es ist ja nichts; ich sehe nichts, ich höre nichts; nur sechs Uhr läutet es und wir schlie- ßen. Ungeheuer ist die Kälte; morgen werden wir wahr- scheinlich noch viel Arbeit haben.“ Sie sieht nichts und hört nichts; aber dennoch löst sie das Schürzenband und versucht mich mit der Schürze fortzuwehen. Leider gelingt es. Alle Vorzüge eines gu- ten Reittieres hat mein Kübel; Widerstandskraft hat er nicht; zu leicht ist er; eine Frauenschürze jagt ihm die Beine vom Boden. „Du Böse“, rufe ich noch zurück, während sie, zum Ge- schäft sich wendend, halb verächtlich, halb befriedigt mit der Hand in die Luft schlägt, „du Böse! Um eine Schaufel von der schlechtesten habe ich gebeten und du hast sie mir nicht gegeben.“ Und damit steige ich in die Regionen der Eisgebirge und verliere mich auf Nim- merwiedersehen. quelle : Franz Kafka: Der Kübelreiter. In: Paul Rabe (Hg.): Franz Kafka: Sämtliche Erzählungen. Frankfurt/Main: Fischer Taschenbuchverlag 1992, S. 195 f. 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 Text 2: Anmerkung: In einem „Spiegel“-Gespräch mit Volker Hage (Der Spiegel, 18. Juni 2001) entwickelte Marcel Reich-Ranicki Ideen für einen „Kanon lesenswerter deutschsprachiger Werke“. „Ein Kanon ist nicht etwa ein Gesetzbuch“, führt Marcel Reich-Ranicki aus, „sondern eine Liste empfehlenswerter, wichtiger, exemplarischer und, wenn es um die Schule geht, für den Unterricht besonders geeigneter Werke.“ Die Auswahl helfe den Leserinnen und Lesern, die angesichts der Fülle der verfügbaren Literatur die Orientierung zu verlieren drohen. „Ohne Kanon gibt es nur Willkür, Beliebigkeit und Chaos und, natürlich, Ratlosigkeit.“ Das gelte auch für die Schullektüre, denn seiner Meinung nach seien die Listen der im Deutschun- 2 4 6 8 10 12 Marcel Reich-Ranicki: Literatur muss Spaß machen (2001) 33 Nur zu P üfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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