Deutsch – Mündliche Reifeprüfung, Maturatraining

2. 6 — Themen, Stoffe, Motive und Mythen im Wandel der Zeiten 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 92 94 96 98 100 102 104 106 108 110 112 ralrichter seinem Sohn nicht abzwingen können. Seiner Weigerung, dieser Mesalliance jemals die väterliche Zustimmung zu geben, hatte Bodo die Drohung entge- gengesetzt, sich sofort mit dieser Person zu verheiraten, die ihn offenbar schon seit Wochen in jeder freien Stun- de an seinem Potsdamer Kasernentor abgeholt hatte – auch dann noch, auch dann noch, als Annes Bruder schon verhaftet war! Der Mann, statt dankbar zu sein, daß er als Schwer- verwundeter mit einem der letzten Flugzeuge aus dem Kessel von Stalingrad ausgeflogen worden war, hatte nach seiner Genesung schamlos erklärt, nicht die Rus- sen, sondern der Führer habe die 6. Armee zugrunde gerichtet. Und Bodo stand nicht davon ab . . . Der Generalrichter, qualvoll erbittert, mochte das nicht wieder zu Ende denken. Er sah sich fest an ei- nem Wasserfleck, der jetzt wie ein überlebensgroßer Fingerabdruck die Wand über der Büste des Führers durchdrang. Die kolossale Bronze war unerschütterlich auf ihrem Sockel geblieben, obgleich der Luftdruck des nächtlichen Bombardements selbst Rohre im Gerichts- hof aus der Wand gerissen hatte . . . Der Generalrichter hörte kaum dem steifschneidigen Staatsanwalt zu. Bodo schien kein Gefühl dafür zu ha- ben, auch seine Mutter nicht, was es ihn kostete, die- se Tragödie zur Farce – und dem Führer das Wort im Mund umzudrehen, nur damit dieses aufsässige Frau- enzimmer vor dem Beil bewahrt blieb. Wer sonst, wenn er den Vorsitz abgelehnt hätte, würde auch nur daran interessiert sein, Hitlers ironisch wegschiebende An- ordnung nach Tisch, die Angeklagte solle „in eigener Person der Anatomie die Leiche zurückerstatten“, so auszulegen, als dürfe das Mädchen den Beerdigten still- schweigend zurückbringen? Der Führer, beiläufig vom Propagandaminister unter- richtet, während ihm die Ordonnanz schon neue Depe- schen über den politischen Umsturz in Italien reichte, hatte zweifellos nicht einmal an ein Gerichtsverfahren gedacht: Anne sollte enthauptet und der Anatomie zur Abschreckung jener Medizinstudenten ‚überstellt‘ wer- den, die vermutlich bei der Beseitigung der Leiche ihres Bruders geholfen hatten. Hier in der Reichshauptstadt, unter den schadenfrohen Augen des Diplomatischen Korps, das hatte Hitler noch angefügt, sollte nicht ge- räuschvoll nach ungefährlichen Querulanten unter den Studenten gefahndet werden: peinlich genug, daß im Frühjahr die feindliche Presse von der Studenten- revolte in München Wind bekam, weil Freislers Volks- gerichtshof zwar schlagartig, aber doch zu laut damit aufgeräumt hatte. Der Generalrichter, selten im Hauptquartier, noch sel- tener am Tische Hitlers, hatte mit erfrorenen Lippen „Jawohl, mein-Führer“ gemurmelt und später, ein ge- blendeter Gefangener, nicht mehr zu seinem Wagen hingefunden. Wie hätte er denn in Hitlers kaltblaue, rasputinisch zwingende Augen hinein das beschämen- de, das unmögliche Geständnis ablegen können, dieses Mädchen, die Schwester des Hochverräters, sei heim- lich mit seinem Sohne verlobt … Jetzt verfiel er, Schweiß unter der Mütze, in den un- sachlich persönlichen Tonfall des betagten Admirals und versprach der Angeklagten fast vertraulich mil- dernde Umstände. Unduldsam, aber genau entgegnete er dem Staatsanwalt: zwar sei nur während des Alarms das Kellergeschoß der Universität in der Nacht zugäng- lich; auch seien die Gitter dreier Fenster der Anatomie ebenfalls entfernt worden, um zusätzliche Notausgänge zu schaffen; und nur infolge der katastrophalen Ver- wirrung durch das Bombardement habe die Angeklag- te die Schlüssel an sich bringen können. Dennoch: die Beseitigung der Leiche sei keine persönliche Bereiche- rung, ‚mithin‘ könne von Plünderung nicht gesprochen werden. Auch sei die Beerdigung nicht unbedingt ein staatsfeindliches Bekenntnis, da es sich bei dem Verrä- ter um den Bruder handele. Als mildernder Umstand gelte noch die seelische Zerrüttung: der Verurteilung des Bruders sei bekanntlich der Freitod ihrer Mutter gefolgt. Verdächtig, dachte der Staatsanwalt, ein straffgekämm- ter Hamburger mit einer Stimme wie ein Glasschnei- der – verdächtig. Aber der Ton des Generals ließ ihn verstummen. Er entblößte sogar die Zähne, ohne daß ein geplantes verbindliches Lächeln daraus wurde: Der Vorsitzende entschied nämlich auch darüber, ob er ihn weiterhin benötigte oder ihn zur Front ‚abstellte‘. Er hätte ihn gern in die Hand bekommen, diesen Chef. Es war doch lachhaft, daß er jetzt der Angeklagten eine befristete Zuchthausstrafe versprach, wenn sie die Ex- humierung ihres Bruders unter Bewachung vornähme; ein solches Angebot, sicher, man brauchte sich später nicht daran zu halten – stand in keinem Verhältnis zu ihremVerstoß gegen den Führerbefehl, politischen Ver- brechern das Begräbnis zu verweigern . . . Während er voller Genugtuung die Beugung des Geset- zes durch seinen Chef bedachte; während der Admiral mit dem wehmütigen Wohlgefallen alter Männer die- se halberloschene ‚Pracht von einem Mädel‘ da auf der Anklagebank teilnahmsvoll mit Blicken tätschelte; und während der Wasserfleck über der Büste des Führers vor dem langen wutroten Fahnentuch weiter und dunk- ler um sich fraß, zwang sich der General, schon ohne Atem, schon ohne Hoffnung zur äußersten Brutalität: „An langwierige Nachforschungen kann das Gericht zu diesem Zeitpunkt des Totalen Krieges keine Kräfte ver- schwenden“, drohte er heiser und hastig Anne und sich selbst. „Sie können sich 24 Stunden überlegen, ob Ihre Helfershelfer in der Anatomie die Leiche Ihres Bruders dort wieder vorfinden – oder ob die Mitwisser durch Einlieferung Ihres Körpers, Kopf vom Rumpf getrennt, darüber aufgeklärt werden sollen, daß wir Nationalso- zialisten jeden defätistischen Ungehorsam rücksichts- los ausmerzen.“ […] EPITAPH Die Berliner Anatomie erhielt in den Jahren 1939–1945 die Körper von 269 hingerichteten Frauen. quelle : Rolf Hochhuth: Die Berliner Antigone. Novelle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2002, S. 7–24. 114 116 118 120 122 124 126 128 130 132 134 136 138 140 142 144 146 158 160 162 164 166 168 170 172 174 176 178 30 Nur zu Prüfzwecken – Eig ntum des V rlags öbv

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