Deutsch – Mündliche Reifeprüfung, Maturatraining

2. 6 — Themen, Stoffe, Motive und Mythen im Wandel der Zeiten Sie mögen mir verzeihen, da Gewalt Mich zwingt. Ich füge mich der Obrigkeit: Maßlos zu handeln hat ja keinen Sinn. ANTIGONE: Ich heiß’ dich nicht mehr. Und wenn du noch wolltest, Mich könnte deine Hilfe nicht mehr freun. Sei du nur, wie dir gut scheint – ich begrab ihn, Und wenn ich dafür sterbe, das ist schön. Geliebt bei dem Geliebten ruh ich dann, Und fromm hab ich gefrevelt. Länger muss ich Den Untern als den Menschen hier gefallen: Dort ruh ich allezeit. Du, wenn du willst, Verachte, was den Göttern heilig ist! ISMENE: Mir gilt es nicht verächtlich, doch der Stadt Zum Trotz zu handeln, hab’ ich nicht die Kraft. ANTIGONE: Das sei dein Vorwand. Aber ich geh hin, Das Grab dem lieben Bruder aufzuschütten. ISMENE: Unglückliche! Wie hab’ ich Angst um dich! ANTIGONE: Für mich nicht fürchte, bessre dein Geschick. quelle : Sophokles: Antigone. Tragödie. Stuttgart: Reclam 2012, S. 5–8. 48 50 52 54 56 58 60 62 64 Text 2: Rolf Hochhuth: Die Berliner Antigone (1963) (Ausschnitt, in alter Rechtschreibung) 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 26 Inhalt: Die Protagonistin Anna entwendet die Leiche ihres Bruders, der als Widerstandskämpfer hingerichtet wurde, aus dem Anatomie-Institut der Berliner Universität, um ihn heimlich zu begraben. Sie wird dafür zum Tode verurteilt. Ihr Verlobter, der Sohn des Generalrichters, begeht daraufhin Selbstmord. Hochhuth bezieht sich in dieser Novelle u. a. auf die Folgen des missglückten Attentats auf Hitler am 20. Juli 1944. Da die Angeklagte einer falschen Aussage bereits über- führt war, glaubte der Generalrichter, er könne sie ret- ten: Anne behauptete, ihren Bruder – den Gehenkten, wie der Staatsanwalt möglichst oft sagte – sofort nach dem Fliegerangriff ohne fremde Hilfe aus der Anatomie herausgeholt und auf den Invalidenfriedhof gebracht zu haben. Tatsächlich waren ein Handwagen, aber auch eine Schaufel auf der Baustelle an der Friedrich- Wilhelm-Universität entwendet worden. Auch hatten in dieser Nacht, wie immer nach den Bombardements, Feuerwehr, Hitlerjungen und Soldaten die geborgenen Opfer in einer Turnhalle oder entlang der Hauptallee des Friedhofs aufgereiht. Vor Gericht aber hatten zwei Totengräber mit der ze- remoniellen Umständlichkeit, die ihr Gewerbe charak- terisiert, die jedoch in Zeiten des Massensterbens so prätentiös wirkte wie ein Sarg, überzeugend bestritten, unter den 280 Verbrannten oder Erstickten, die bis zu ihrer Registrierung unter Bäumen auf Krepp-Papier la- gen, den unbekleideten, nur mit einer Plane bedeckten Körper eines jungen Mannes gesehen zu haben. Ihre Aussagen hatten Beweiskraft. Sehr präzise vor allem in den Nebensächlichkeiten gaben sie an, persönlich jeden einzelnen der 51 Toten, die weder zu identifizieren ge- wesen noch von Angehörigen gesucht worden waren, drei Tage später in die Grube gelegt zu haben, in das Gemeinschaftsgrab. Die Bezeichnung Massengrab war verboten worden. Die Reichsregierung pflegte die Toten eines Gemein- schaftsgrabes mit besonders tröstlichem Aufwand beizusetzen: nicht nur waren Geistliche beider Konfes- sionen und ein namhafter Parteiredner, sondern auch noch ein Musikzug des Wachbataillons und eine Fah- nenabordnung hinzugezogen worden. Ein Beisitzer des Reichskriegsgerichts, ein großväter- lich warmherziger Admiral, der als einziger in dem fast leeren verwahrlosten Saal keine Furcht hatte, war so gerührt durch die Schilderung der Totenfeier, daß er der Angeklagten mit milder Zudringlichkeit empfahl, endlich die Wahrheit zu sagen über den ‚Verbleib‘ ihres toten Bruders: Die Entweihung eines Gemeinschafts- grabes durch die Leiche eines von diesem Gerichtshof abgeurteilten Offiziers müsse sonst leider – er sagte zweimal aufrichtig leider – als strafverschärfend gewer- tet werden. Anne, zermürbt und leise, beharrte auf ihrer Lüge … Der Generalrichter, während der Worte des Admirals wieder in innerem Zweikampf mit seinem Sohn, fand Bodos Gesicht nicht mehr; es zerfloß ihm wie damals im Rauch der Lokomotive – nach ihrem notdürftig zu- sammengeflickten Übereinkommen, am Vorabend von Bodos Abfahrt zur Ostfront. Mehr als den Verzicht, sich in diesem Augenblick mit der Schwester eines Hochverräters öffentlich zu verloben, hatte der Gene- 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 29 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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