Deutsch – Mündliche Reifeprüfung, Maturatraining

2. 2 — Analyse und Interpretation von Erzähltexten oder mehr? „Ich bin keine Ameise. Ich will weg“, sagte sie zu Ali, einem Cousin, dem sie vertraute. Ali hatte kein Geld, dafür aber Mut. In der Nacht liefen sie fort. Der Himmel war schwarz wie ein verkohltes Brot. Nur hier und dort glühte ein Stern. Doch sein Licht reichte, um Alis Freunde zu finden: Sie behielt weder ihre Ge- sichter noch ihre Namen, nur ihren Atem behielt sie in Erinnerung. Er erleichterte ihre Schritte, beruhigte ihr Herz und führte die beiden über die Grenze. Die Freun- de kehrten dann wieder zurück, Ali blieb nur sein Mut. Nun gingen sie durch ein Land, das ihrem ähnlich war. Sie mit den neuen Schuhen an ihren Füßen, er mit der goldenen Hochzeitskette seiner Mutter in der Hosenta- sche. Eine Woche später erreichten sie Istanbul. Nach langem Feilschen verkaufte Ali die Goldkette einem Händler mit tränenden Augen. Er bekam für sie tau- send feuchte Dollar. Der billigste Menschenschmuggler verlangte aber zweitausend Dollar pro Kopf. „Ich besor- ge das Geld“, sagte Ali, mietete ein Zimmer, gab ihr die Hälfte des Geldes und bat sie, auf ihn zu warten. Und sie wartete. Manchmal ging sie spazieren, manchmal ging sie einkaufen, am liebsten aber putzte sie ihre neu- en Schuhe. Abends hörte sie oft den schweren Atem der Paare, die sich im Nebenzimmer liebten. „Sie atmen ja wie auf der Flucht ... vielleicht wollen sie auch in eine andere Welt“, dachte sie und versuchte, sich diese Wel- ten vorzustellen. Manchmal gelang es ihr, viel häufiger aber sah sie den kleinen, kargen Hof ihres Elternhauses, das Stück Himmel über den Mauern und die Ameisen, die an den alten Lehmziegeln hochkletterten, die brü- chig waren wie das Glück. Sie heftete dann ihren Blick auf eine der Ameisen und ließ sich von ihr in einen erlösenden Schlaf tragen. Nach zwei Wochen tauch- te Ali wieder auf. Sein Körper war abgemagert, seine schwarzen Augen schienen jetzt nach innen gekehrt, wie Ameisenrücken. „Du fährst allein“, sagte er. Er hatte eine seiner Nie- ren verkauft. Das Geld reichte aber nur für eine Per- son. „Man kommt auch mit einer Niere in den Him- mel“, scherzte er, packte sie an der Hand und führte sie durch eine Reihe verzweigter Gassen, eng und eintönig wie die Armut. Links und rechts hörte sie Menschen schnarchen, schimpfen oder im Schlaf reden. Unter den Sohlen spürte sie bucklige, wacklige Pflastersteine, die auch die mutigsten Schritte verunsicherten. Es stank nach Urin und vermoderten Träumen. In einer Blech- halle mit rutschigem Boden blieben sie stehen. Auf einem großen Kanister saß ein Mann und aß Kür- biskerne. Über seinem Mund hing ein Schnurrbart wie ein verrostetes Hufeisen. „Willst du? Is‘ gut für den Schwanz“, bot er Ali von den Kernen an. „Wenn du sie anrührst, dann schneide ich ihn dir ab!“, sagte Ali. Der Mann lächelte. Kein Wort fiel mehr aus seinem Mund, nur hin und wieder die Schale eines Kürbiskerns. Sie zahlte und stieg in den Laderaum eines Lastwa- gens. Er war mit Reifen beladen. Eine Woche war sie unterwegs. Sie durfte nicht aussteigen. Sie wusste nicht, wann es Tag war und wann Nacht. Sie pinkelte in ei- nen roten Kübel und hielt dabei ein Feuerzeug in der Hand. Einmal durfte sie den Kübel leeren, in welchem Land wusste sie nicht. Das einzige, was sie sah, waren die Reifen. Hunderte schwarze aufeinander gestapelte Monde, Reste erloschener Welten. Neben ihnen schlief sie ein, neben ihnen wachte sie auf, neben ihnen träum- te sie. Als sie aussteigen durfte, war sie in: Wien. Alle ihre Feuerzeuge waren leer, aber dafür konnte niemand so schön wie sie von der Sonne erzählen. quelle : Dimitré Dinev: Die neuen Schuhe. In: Ders.: Ein Licht über dem Kopf. München: btb 2 2007 (= btb 73520), S. 153–156. 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 70 72 74 76 78 80 82 84 86 88 90 Zusatzinformation Dimitré Dinev , geb. 1968 in Bulgarien, floh 1990 nach Österreich; seitdem lebt er hier und schreibt in deutscher Sprache unter anderem Drehbücher und Erzählungen. Tipps für die Weiterarbeit: In Ihrer Schulbibliothek finden Sie mit großer Wahrscheinlichkeit Sammelbände mit Kurzgeschichten. Analysie­ ren und interpretieren Sie die eine oder andere von ihnen. Wählen Sie einen Text aus, der nicht zu lang ist (ca. drei Seiten). Konzentrieren Sie sich im Rahmen der Analyse unter anderem auf folgende Aspekte: – Erzähler: Ich-Erzähler, Er-/Sie-Erzähler – Erzählverhalten – verschiedene Formen der Erzähler- und Figurenrede – Einsträngigkeit und Mehrsträngigkeit der Handlung – äußere und innere Handlung – Charakterisierung der Figuren – Gestaltung der Zeit und des Raumes – Feststellung sprachlicher Auffälligkeiten Als Übung für das Interpretieren können Sie die Bedeutung von Anfang und Schluss für den jeweiligen Text erläutern, überlegen, welche Funktion die Überschrift des Textes hat, überprüfen, inwieweit Merkmale einer bestimmten Gattung im konkreten Text vorkommen. TIPP . 19 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verl gs öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=