Deutsch – Mündliche Reifeprüfung, Maturatraining

2. 1 — Gespräch über literarische Texte Das kalte Wasser, die Angst, und er, nicht mehr weit … Sie kämpft sich aus dem Schlamm hoch, keuchend, klettert die Böschung hinauf, stemmt ihre aufgerisse- nen, blutenden Füße in den Morast, spreizt die Zehen, um darin Halt zu finden. Oben ein Baum. Dürre Blätter streifen ihr Gesicht. Der Stamm ist dicker als die ande- ren, sie wirft die Arme um ihn und denkt an ihren Va- ter Theis, einen Schrank von einemMann, schweigsam, brummig, ein unerschütterliches Bollwerk gegen die Welt draußen. Sie klammert sich an den Baum, wie sie sich früher an ihren Vater geklammert hat. Seine Stärke bei ihr, ihre bei ihm. Nichts sonst brauchte sie, würde sie je brauchen. Vomunendlichen Himmel kommt ein dumpfes Heulen. Die strahlenden, alles sehenden Lichter eines Flugzeugs fliehen die Grenzen der Schwerkraft, fliehen Kastrup, fliehen Dänemark. Der flüchtige Schein verwirrt und blendet. In dem unerbittlichen Gleißen tasten Nannas Finger über ihr Gesicht. Fühlen die Wunde, die vom linken Auge zur Wange läuft, bösartig, offen, blutend. Sie riecht ihn, spürt ihn. An ihr. In ihr. Durch all die Schmerzen, inmitten der Angst, schießt eine heiße Flamme der Wut empor. Du bist Theis Birk Larsens Tochter. Alle sagten das, wenn sie ihnen Grund dazu gab. Du bist Nanna Birk Larsen, Theis’ Kind und Pernilles Kind, du wirst dem Ungeheuer entkommen, das in der Nacht durch den Pfingstwald jagt, draußen am Rand der Stadt, in der es, nur wenige Kilometer und doch so weit entfernt, jenen warmen sicheren Ort namens Zu- hause gibt. Sie steht an den Stamm geschmiegt, wie sie sich früher an ihren Vater geschmiegt hat, die Arme um die ris- sige silberne Rinde geschlungen, ihr seidig glänzendes Hemd verdreckt und blutverschmiert, zitternd, stumm, redet sich ein, dass Rettung nahe ist, jenseits des dunk- len Waldes und der toten Bäume, die keinen Schutz bieten. Wieder streicht ein weißer Strahl über sie. Es ist nicht die Lichtflut aus dem Bauch eines Flugzeugs, das über dem Ödland dahinfliegt wie ein riesiger Maschi- nenengel, der müßig nach einer verlorenen Seele Aus- schau hält, um sie zu retten. Lauf, Nanna, lauf, ruft eine Stimme. Lauf, Nanna, lauf, denkt sie. Der Schein einer Taschenlampe ist jetzt auf ihr, das gleißende Auge. Er ist da. quelle : David Hewson, Søren Sveistrup: Das Verbrechen. Kommissarin Lunds 1. Fall. Wien: Zsolnay 2013, S. 7–8. Text 2: Ruth Rendell: Das Verderben (1999) 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 46 48 50 52 54 56 58 60 62 64 66 68 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 Klappentext: Durch das Städtchen Kingsmarkham geht eine Welle der Gewalt - gegen Frauen, gegen Außenseiter und Missliebige aller Art und sogar gegen die Polizei. Zuerst verschwinden kurz nacheinander zwei junge Mädchen. Als sie nach wenigen Tagen scheinbar unbeschadet zurückkehren, weigern sie sich, über ihre Erlebnisse Auskunft zu geben. Den „Kinderkreuzzug“ nannte er es, als alles vorbei war, weil Kinder eine so große Rolle darin spielten. Doch eigentlich ging es überhaupt nicht um Kinder. Kein einziges trug körperlichen Schaden davon, keinem war etwas getan worden, keines hatte über das in sei- nem Alter normale Maß hinaus weinen müssen, nicht einmal das. Der erlittene seelische Schmerz, das emo- tionale Trauma und die psychische Schädigung – nun, das war etwas anderes. Wer weiß, welchen Eindruck ein bestimmter Anblick auf Kinder ausübt? Und wer kann sagen, welche Handlungen solche Eindrücke nach sich ziehen? Wenn überhaupt. Vielleicht sind sie ja, wie man früher glaubte, charakterbildend. Sie machen uns stark. Das Leben ist schließlich hart, und darüber sollte man sich am besten schon in jungen Jahren klarwerden. Jede Kindheit ist unglücklich, sagt Freud. Allerdings, über- legte Wexford, ist die eine unglücklicher als die andere. Diese Kinder, die Kreuzzügler, waren Zeugen. Viele meinen, man sollte nie zulassen, dass Kinder Zeugen werden. Und es gibt ja auch Gesetze, die sie vor der Ausbeutung durch die Gerichtsbarkeit schützen. Aber wer will verhindern, dass sie etwas sehen, dass sie über- haupt erst Augenzeuge werden? Seine Tochter Sylvia, die Sozialarbeiterin, sagte, nach allem, was sie schon gesehen hatte, glaube sie manchmal, alle Kinder soll- ten ihren Eltern gleich nach der Geburt weggenommen werden. Andererseits würde sie selbst sich mit Händen und Füßen wehren, falls irgendein übereifriger Sozial- arbeiter versuchen würde, ihr ihre eigenen Kinder weg- zunehmen. Die Kinder, um die es in Wexfords Fragen und Er- mittlungen ging, stammten von überallher aus Kings- markham und den umliegenden kleinen Ortschaften, aus einem Sozialwohnungsgebiet, das die Zeitungen mit ihrem derzeitigen Lieblingsausdruck als „verrufen“ bezeichneten, aus dem Millionärsviertel, das bei ihnen „im Grünen“ lag, und aus der Mittelschicht dazwi- schen. Sie trugen die Vornamen – waren gelegentlich sogar darauf getauft worden –, die in den achtziger und neunziger Jahren beliebt waren: Kaylee und Scott, Gary und Lee, Sascha und Sanchia. […] Das älteste Kind, für das Wexford sich interessierte, war schon fast keines mehr. Sie war sechzehn, alt ge- nug zum Heiraten, aber nicht zum Wählen, alt genug, um von der Schule abzugehen, wenn sie sich dafür ent- schied, und auch ihr Elternhaus zu verlassen, wenn sie das wollte. Ihr Name war Lizzie Cromwell. quelle : Ruth Rendell: Das Verderben. München: Goldmann 2001, S. 7–8. 15 Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

RkJQdWJsaXNoZXIy ODE3MDE=