weltweit 3, Geographie und Wirtschaftskunde, Schulbuch
Leseseite „Es ist nicht leicht, einen Beschäftigungslosen zu fragen, was er den lieben langen Tag so treibe, und ihm dabei in die Augen zu schauen. Denn Victor O. schämt sich. Die Hälfte seines Erwachsenenlebens hat er be- reits in Österreich verbracht, zwei seiner drei Kinder sind hier zur Welt ge- kommen, und niemals in den vergangenen zehn Jahren hat er einen Job mit einem regelmäßigen Einkommen gehabt. Seinen hochstehenden Ansprü- chen als treusorgender Ehemann und Vater wird er nicht gerecht. Etwa 10 erwachsenen Asylwerbern in Österreich ergeht es ähnlich. Die besten Jahre ihres Lebens warten sie auf den Ausgang des Verfahrens und haben in dieser Zeit keinen Zugang zum regulären Arbeitsmarkt … Vor zehn Jahren hat Victor O. in der Mongolei, in deren Haftanstalten nach UN-Folterberichten ,schlimmste Zustände‘ herrschen, sein ganzes Hab und Gut verkauft, seine Frau und den damals neunjährigen Sohn an der Hand genommen und ihnen ein besseres Leben versprochen. Zunächst hatten sie noch Geld für Flugtickets, am Ende gelangten sie zu Fuß über die grüne Grenze nach Österreich. Die beiden jüngeren Kinder, vier und neun Jahre alt, sind in Österreich gebo- ren und sprechen nur Deutsch. Der Älteste ist 19 Jahre alt, hat den Pflicht- schulabschluss und keine Zukunft. Dabei hat die Familie noch Glück gehabt: Man ist nicht in einer Flüchtlingspension in ländlicher Einöde untergebracht, sondern im Wiener Integrationshaus, kann das eigene Essen zubereiten und über Spenden finanzierte Deutschkurse besuchen. O. ist 38 Jahre alt, ein gelernter Schneider, der es liebt, Stoff zwischen den Fingern zu fühlen, aber er würde auch rostige Nägel aus Brettern ziehen und Beton mischen. ‚Ich will mich nicht länger unterstützen lassen‘, sagt O., und man ahnt, dass dies ein letztes Aufbäumen ist vor der Resignation. Asylwerber, die zum Nichtstun verdammt sind, fühlen sich nach Monaten und Jahren des Wartens wie kleine Kinder, sie verlernen es, ihren Alltag selbstständig zu planen. Viele werden gemütskrank. Auch ihre Qualifikatio- 10 15 20 25 M1 Viele Asylwerberinnen und Asylwerber dürfen nicht o beiten. 52 Dürfen alle arbeiten? Nur zu 5 Prüfzwecken ffiziell ar – Eigentum 000 des Verlags öbv
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