Vielfach Deutsch 4, Leseheft
9 1 Texte zur Berufswahl lesen und verstehen des Friseursalons, darüber zu sprechen. „Ist dir das auch nicht unangenehm?“, fragte Madame Feyrières besorgt. „Mir egal“, knurrte Louis. Als sie im Schlafzimmer waren, fürchtete Madame Feyrières einen Wutanfall ihres Mannes. Bestimmt würde er sich über die verrückten Ideen von Großmama beklagen. „Im Grunde ist so ein Praktikum keine schlechte Sache“, sagte er, während er sich seiner Krawatte entledigte. „Louis wird lernen, was Arbeit bedeutet, er wird fegen, aufräumen, stundenlang stehen. Ich mach dir keine Vorwürfe, Véra, aber du verwöhnst den Jungen zu sehr. Es wird Zeit, dass er die Realität kennen lernt!“ Monsieur Feyrières redete laut und mit weit ausholenden Gesten, als wäre er umringt von seinen Studentinnen und Studenten. „Eine handwerkliche Arbeit hat auch ihre Tugenden“, bemerkte seine Frau mit leiser Stimme. Monsieur Feyrières warf ihr einen mitleidigen Blick zu. „Ja, nämlich die große Tugend, dass man begrei, wie wichtig es ist, etwas für seine Schulbildung zu tun.“ An eben diese Schulbildung dachte Louis in seinem Zimmer. Er kam in Mathe kaum mit, be- gri nicht, was die Französischlehrerin eigentlich von ihm wollte, schlief im Deutschunterricht ein. Von Zeit zu Zeit gab er sich einen Ruck, ein bisschen aus Selbstachtung, ein bisschen, weil er Angst vor seinem Vater hatte. Er verstaute die Hausaufgaben und Kopien in den Tiefen seines Rucksacks. Dann versank er wieder in einem Sumpf aus Träumen und unklaren Gedanken. Der Tag war noch nicht richtig angebrochen, als Louis sich am nächsten Morgen zur Schule aufmachte. Er hatte Lust, einen Umweg durch die Fußgängerzone zu machen. Großmamas Friseur, der Salon Marielou, lag gegenüber einer Bäckerei. Als er vor dem Schaufenster vorbeikam, ging Louis langsamer. 9.00 20.00 Uhr stand als Önungs- zeit am Eingang, aber im Inneren blinkte bereits ein blasses Neonlicht. Eine Frau in Pantoeln wischte mit einem Lappen den Fliesenboden. Sie richtete sich auf, eine Hand im Rücken, und blickte auf die Straße hinaus. Louis sah, dass sie ihn gesehen hatte. Er wurde rot und ver- drückte sich. Diese von der Erschöpfung überwältigte Frau verfolgte ihn den ganzen Vormittag. War sie Marielou, die Besitzerin des Fri- seursalons? Aus: Marie-Aude Murail: Über kurz oder lang. Fischer Schatzinsel, Frankfurt am Main 2010 (bearbeitet). Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 Buchtipp Louis erhält die Chance, sein Talent zu entfalten. Sein Berufswunsch wird aber nicht von allen akzeptiert. Marie-Aude Murail: Über kurz oder lang. Fischer Schatzinsel, Frankfurt am Main 2010. Aus dem Französischen von Tobias Scheffel. Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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