Vielfach Deutsch 4, Leseheft
45 4 Texte lesen und interpretierend wiedergeben Anne Frank Das Tagebuch der Anne Frank Es geht hier um einen Text, der nicht für ein breites Publikum gedacht war. Du liest die Tagebucheintragung eines vierzehnjährigen Mädchens. Anne schreibt mitten im Krieg über den Krieg und macht sich Gedanken. Anne Frank wurde 1929 in Deutschland als Kind jüdischer Eltern geboren. Die Familie flüchtete vor der Verfolgung durch die Nationalsozialisten nach Amsterdam. Schließlich besetzte die deutsche Wehrmacht auch diese Stadt. Danach lebte Anne mit ihrer Familie und wenigen Freunden zwei Jahre lang versteckt und gefangen in einem Hinterhaus. Das Tagebuch war für Anne in dieser Zeit eine „gute Freundin“. Sie nannte es vertrauensvoll Kitty. Lies den Ausschnitt aus Annes Tagebuch, das sie bis zu ihrer Entdeckung und Deportation im August 1944 geführt hat. Mittwoch, 29. März 1944 Liebe Kitty! Gestern Abend sprach Minister Bolkestein im Radio darüber, dass nach dem Krieg eine Sammlung von Tagebüchern und Briefen aus dieser Zeit herauskommen soll. Natürlich stürmten alle gleich auf mein Tage- buch los. Stell dir vor, wie interessant es wäre, wenn ich einen Roman vom Hinterhaus herausgeben würde. Nach dem Titel allein würden die Leute denken, dass es ein Detektivroman wäre. Aber im Ernst, es muss ungefähr zehn Jahre nach dem Krieg schon selt- sam erscheinen, wenn erzählt wird, wie wir Juden hier gelebt, gegessen und gesprochen haben. Auch wenn ich dir viel von uns erzähle, weißt du trotzdem nur ein kleines bisschen von unserem Leben. Wie viel Angst die Damen haben, wenn bombardiert wird, wie zum Beispiel am Sonntag, als 350 englische Maschinen eine halbe Million Kilo Bomben auf das uns vertraute Hafenstädtchen Ijmuid abgeworfen haben, wie die Häuser dann zittern wie Grashalme im Wind, wie viele Epidemien hier herrschen … Von all diesen Dingen weißt du nichts und ich müsste den ganzen Tag schreiben, wenn ich dir alles bis in die Einzelheiten erzählen sollte. Die Leute stehen Schlange für Gemüse und alle möglichen anderen Dinge. Die Ärzte kommen nicht zu ihren Kranken, weil ihnen ständig ihr Fahrzeug gestohlen wird. Einbrüche und Diebstähle gibt es jede Menge, sodass man anfängt, sich zu fragen, ob etwas in die Nieder- länder gefahren ist, weil sie plötzlich so diebisch geworden sind. Kleine Kinder von acht bis elf Jahren schlagen die Scheiben von Wohnungen ein und stehlen, was nicht niet- und nagelfest ist. Niemand wagt, seine Wohnung auch nur für fünf Minuten zu verlassen, denn kaum ist 6 die Deportation: zwangs- weise Verschickung, Verschleppung 2 4 6 8 10 12 14 16 18 20 22 24 die Epidemie, die Epide- mien: massenha es Auf- treten einer (Infektions-) Krankheit in einem be- stimmten Gebiet, Seuche Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv
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