Vielfach Deutsch 4, Leseheft

43 4 Texte lesen und interpretierend wiedergeben „Und Sie haben keine Familie?“, fragte ich und beobachtete das jen- seitige Ende der Brücke, wo ein paar letzte Karren den Uferabhang hinunterjagten. „Nein“, sagte er, „nur die Tiere, die ich angegeben habe. Der Katze wird natürlich nichts passieren. Eine Katze kann für sich selbst sorgen, aber ich kann mir nicht vorstellen, was aus den anderen werden soll.“ „Wo stehen Sie politisch?“, fragte ich. „Ich bin nicht politisch“, sagte er. „Ich bin sechsundsiebzig Jahre alt. Ich bin jetzt zwölf Kilometer gegangen und ich glaube, dass ich jetzt nicht weitergehen kann.“ – „Das ist kein guter Platz zum Bleiben“, sagte ich. „Falls Sie es schaˆen können, dort oben sind Lastwagen.“ – „Ich will ein bisschen warten“, sagte er, „und dann werde ich gehen. Wo fahren die Lastwagen hin?“ – „Nach Barcelona zu“, sagte ich ihm. „Ich kenne niemand in der Richtung“, sagte er, „aber danke sehr. Nochmals sehr schönen Dank!“ Er blickte mich ganz ausdruckslos und müde an, dann sagte er, da er seine Sorgen mit jemandem teilen musste: „Der Katze wird nichts pas- sieren, das weiß ich; man braucht sich wegen der Katze keine Sorgen zu machen. Aber die anderen; was glauben Sie wohl von den anderen?“ – „Ach, wahrscheinlich werden sie heil durch alles durchkommen.“ „Glauben Sie das?“ – „Warum nicht?“, sagte ich und beobachtete das jenseitige Ufer, wo jetzt keine Karren mehr waren. „Aber was werden sie unter der Artillerie tun, wo man mich wegen der Artillerie fortgeschickt hat?“ – „Haben Sie den Taubenkä—g unverschlossen gelassen?“, fragte ich. „Ja.“ – „Dann werden sie weg˜iegen.“ – „Ja, gewiss werden sie weg˜iegen. Aber die anderen? Es ist besser, man denkt nicht an die anderen“, sagte er. „Wenn Sie sich ausgeruht haben, sollten Sie gehen“, drängte ich. „Stehen Sie auf und versuchen Sie jetzt einmal zu gehen.“ – „Danke“, sagte er und stand auf, schwankte hin und her und setzte sich dann rücklings in den Staub. „Ich habe Tiere gehütet“, sagte er eintönig, aber nicht mehr zu mir. „Ich habe doch nur Tiere gehütet.“ Man konnte nichts für ihn tun. Die Faschisten rückten vor. Es war ein grauer, bedeckter Tag mit tie˜iegenden Wolken, darum waren ihre Flugzeuge nicht am Himmel. Das und die Tatsache, dass Katzen für sich selber sorgen können, war alles an Glück, was der alte Mann je haben würde. Aus: Ernest Hemingway: Gesammelte Erzählungen. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 1981 (bearbeitet). Aus dem Amerikanischen von Annemarie Horschitz-Horst. Buchtipp Marlene Röder: Melvin, mein Hund und die russischen Gurken. Ravensburger, Ravens- burg 2011. Kurzgeschichten für junge Erwachsene über Men- schen an Wendepunkten in ihrem Leben. 24 26 28 30 32 34 36 38 40 42 44 46 48 50 52 54 56 58 60 62 der Faschist, die Fa- schisten: Anhänger einer antidemokratischen und nationalistischen Herr- scha sform Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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