Spielpläne Oberstufe, Schulbuch

360 Zeitgeschichtliche und politische Reflexe Wie jede Kunst hat auch Musik stets eine politische Bedeutung. Sie kann Herrschaftsstruk- turen repräsentativ unterstützen wie z. B. im Zeitalter des Barock, oder mit dem Rückzug ins Private sich politischer Auseinandersetzungen in ihrer Zeit enthalten und auch damit eine politische Funktion einnehmen, wie es teilweise für die Romantik zutrifft. Musik, die explizit eine politische Stellungnahme einschließt, findet sich in vielen Epochen (z. B. das Lied „L`homme armé“ s. S. 92) und auch im 20. Jahrhundert, wie Sie im Folgenden analysieren können. Dmitri Schostakowitsch: Sinfonie Nr. 7 op. 60 „Leningrader“, 1. Satz, Mittlere Episode, Thema und 11 Variationen (1941/42) Der Komponist Dmitri Schostakowitsch steht für eine Künstlergeneration des 20. Jahrhun- derts die sich zwischen eigenem kreativen Anspruch und vom sozialistischen Sowjetstaat diktierter „gesellschaftlicher Verantwortung“ behaupten musste. Im Zusammenhang mit seiner 1934 im damaligen Leningrad uraufgeführten Oper „Lady Macbeth von Mzensk“ ge- riet Schostakowitsch bereits als junger Komponist mit von der Staatsmacht vorgegebenen ästhetischen Normen in Konflikt. Nach einer triumphalen Premiere gab es innerhalb von zwei Jahren sensationelle 82 Aufführungen, bis im Januar 1936 Staatschef Josef W. Stalin eine Vorstellung besuchte und sein verheerendes Urteil fällte: „Das ist Blödsinn und keine Musik.“ Begleitet wurde diese fatale Einschätzung von einem linientreuen Artikel im Parteiorgan „Prawda“ („Die Wahrheit“), woraufhin Schostakowitsch seine Oper zurückzog, um einer dro- henden Verhaftung zu begegnen. Sinfonie Nr. 7 op. 60 „Leningrader“ Kaum eine Sinfonie war im 20. Jh. so stark politisch motiviert und wurde zugleich von der Po- litik vereinnahmt wie Schostakowitschs 7. Sinfonie. Sie wurde 1941, in einem Klima der Angst, komponiert: Nach den Säuberungen Stalins 1937/38 entspannte sich die innenpolitische Lage zwar vorübergehend, mit dem Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion im Sommer 1941 entstand jedoch plötzlich eine neue Bedrohungssituation. Die Einwohner Leningrads (heute St. Petersburg) standen am Beginn einer fast dreijährigen deutschen Be- lagerung, die mindestens 800.000 Menschen das Leben kosten sollte. – Schostakowitsch schrieb die Sinfonie als patriotische Reaktion auf den Überfall der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Sie wurde nach der Stadt Leningrad benannt und ging als Zeugnis der tragischen Ereignisse um die Welt. Gerade die 7. Sinfonie wurde sowohl in der Sowjetunion als auch in den USA und Großbritannien sehr populär. Ursprünglich sollte die Sinfonie nur aus einem Satz bestehen, später entschloss sich der Komponist zum klassischen Aufbau mit vier Sätzen. Schostakowitsch wollte zunächst jedem Satz einen Titel geben: 1. Krieg, 2. Erinnerung, 3. Die Weite der Heimat, 4. Sieg. Von diesem Vorhaben nahm er jedoch wieder Abstand, und in den Partiturausgaben finden sich diese programmatischen Überschriften nicht wieder. z zugang und weiterführende interpretation Im Online-Link finden Sie umfangreiches Arbeits- und Textmaterial zu politischen Aussa- gen und Zusammenhängen sowie zur künstlerischen Positionierung. Dmitri Schostakowitsch (1906−1975) Schostakowitsch studierte von 1919 bis 1925 am Konservatorium seiner Heimatstadt St. Petersburg. Politische Ereignisse beeinfluss- ten sein Komponieren schon frühzeitig und bestimmten seine schöpferische Tätigkeit teils frei- willig, teils gezwungenermaßen bis zu seinem Lebensende. Die Musikrichtungen der 1920er-Jahre, unter anderem der Futurismus, die Atonalität und der Symbolismus, beschäftigten ihn wie keinen anderen russischen Komponisten seiner Zeit. Ein großes Vorbild war aber auch das sinfonische Werk Gustav Mahlers, in dessen Tradition er seine fünfzehn sehr unterschiedlich gestalteten Sinfo- nien stellte. Daneben komponierte er Opern und Kammermusik sowie Ballett- und Filmmusiken. Zu vielen seiner Werke ist zu sagen, dass eine vermeintliche Verherrlichung der Sowjetunion zugleich auch als ihr genaues Gegenteil oder gar als Karikatur verstanden werden konnte. So gestaltete er als Abschluss seiner Trias von Kriegssinfonien keine triumphale „Neunte“, wie sie in der Tradition Beethovens zu erwarten gewesen wäre, sondern ein klas- sizistisches, fast heiteres Werk, das 1945 zwar zum Ende des Zweiten Weltkriegs passte, den sowjetischen Sieg jedoch nicht verherrlichte. Prompt wurde die Sinfonie von der sowjetischen Kulturpresse als manieriert ge- brandmarkt. g2ae43 Arbeitsblatt Schostakowitsch 09 analyse entwicklungen – spektren – tendenzen: neue musik Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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