Spielpläne Oberstufe, Schulbuch

319 Was ist denn schließlich die Musik? Wir unseresteils gestehen, wobei wir uns auf ihre Geschichte und die vielen verschiedenen Formen berufen, welche sie im Lauf derselben angenommen hat, dass wir bei Beantwortung dieser Frage nicht von ihren drei wesentlichen Elemen- ten: Rhythmus, Melodie, Harmonie zu abstrahieren ver- mögen. Überall, wo wir eines dieser Elemente zu einer bedeutenden Entwickelung gelangen sehen, wo es uns neu, originell, charakteristisch entgegentritt, glauben wir Musik zu erkennen. Das Programm bezweckt nichts anderes als auf die geis- tigen Momente, welche den Komponisten zum Schaffen seines Werkes trieben […] vorbereitend hinzudeuten. Obwohl es kindisch müßig, ja meistens verfehlt ist, Programme nachträglich zu entwerfen und den Gefühls- inhalt einer Instrumentaldichtung erklären zu wollen, da in diesem Falle das Wort den Zauber zerstören, die Gefühle entweihen, die feinsten Gespinste der Seele zer- reißen muss, die gerade nur diese Form annahmen, weil sie sich nicht in Worte, Bilder und Ideen fassen ließen, so ist doch auch wieder der Meister Meister über sein Werk und kann es unter dem Einfluss bestimmter Eindrücke geschaffen haben, welche er alsdann noch dem Hörer zu vollem, ganzem Bewusstsein bringen möchte. Wir können nicht die Fähigkeit der Musik bezweifeln, Charaktere ähnlich den von den Dichterfürsten unserer Zeit gezeichneten wiederzugeben. Übrigens ist sie mit ihren innersten Beziehungen zur Literatur, an diese an- knüpfend und sich anlehnend, an dem Punkte angekom- men, wo das ganze menschliche Fühlen, Denken, Dichten und Trachten so überwiegend auf ein tiefes Forschen nach den Quellen unserer Misere und unseres Irrens gerichtet erscheint, […] dass wir die Einführung des Programms in den Konzertsaal für ebenso unabwendbar halten, wie die Einführung des deklamatorischen Stiles in die Oper. Franz Liszt: Berlioz und seine Harold-Symphonie, 1881 Als Inhalt der Musik hat man ziemlich einverständlich die ganze Stufen- leiter menschlicher Gefühle genannt, weil man in diesen den Gegensatz zu begrifflicher Bestimmtheit und daher die richtige Unterscheidung von dem Ideal der bildenden und dichtenden Kunst gefunden glaubte. Demnach seien die Töne und ihr kunstreicher Zusammenhang bloß Material, Aus- drucksmittel, wodurch der Komponist die Liebe, den Mut, die Andacht, das Entzücken darstellt. […] Was uns an einer reizenden Melodie, einer sinnigen Harmonie ergötzt und erhebt, sei nicht diese selbst, sondern was sie bedeu- tet: das Flüstern der Zärtlichkeit, das Stürmen der Kampflust. Um auf festen Boden zu gelangen, müssen wir vorerst solche altverbundene Metaphern schonungslos trennen: Das Flüstern ? Ja, – aber keineswegs der „Sehnsucht“, das Stürmen ? Allerdings, doch nicht der „Kampflust“. In der Tat besitzt die Musik das eine oder andere, sie kann flüstern, stürmen, rauschen, – das Lieben und Zürnen aber trägt nur unser eigenes Herz in sie hinein. Die Darstellung eines bestimmten Gefühls oder Affektes liegt gar nicht in dem eigenen Vermögen der Tonkunst. […] Wir sind bisher negativ zu Werke gegangen und haben lediglich die irrige Voraussetzung abzuwehren gesucht, dass das Schöne der Musik in dem Dar- stellen von Gefühlen bestehen könne. Nun haben wir den positiven Gehalt zu jenem Umriss hinzuzubringen, indem wir die Frage beantworten, welcher Natur das Schöne der Tondichtung sei. Es ist ein spezifisch Musikalisches. Darunter verstehen wir ein Schönes, das unabhängig und unbedürftig eines von außen her kommenden Inhalts, ein- zig in den Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt. Die sinnvollen Beziehungen in sich reizvoller Klänge, ihr Zusammenstimmen und Wider- streben, ihr Fliehen und sich Erreichen, ihr Aufschwingen und Ersterben, – dies ist, was in freien Formen vor unser geistiges Anschauen tritt und als schön gefällt. […] Das Material, aus dem der Tondichter schafft, und dessen Reichtum nicht verschwenderisch genug gedacht werden kann, sind die gesamten Töne, mit der in ihnen ruhenden Möglichkeit zu verschiedener Melodie, Harmonie und Rhythmisierung. Unausgeschöpft und unerschöpflich waltet vor allem die Melodie , als Grundgestalt musikalischer Schönheit; mit tausendfachem Ver- wandeln, Umkehren, Verstärken bietet die Harmonie immer neue Grundla- gen; beide vereint bewegt der Rhythmus , die Pulsader musikalischen Lebens, und färbt der Reiz mannigfaltiger Klangfarben. Fragt es sich nun, was mit diesem Tonmaterial ausgedrückt werden soll, so lautet die Antwort: Musikalische Ideen . Eine vollständig zur Erscheinung gebrachte musikalische Idee aber ist bereits selbständiges Schöne, ist Selbst- zweck und keineswegs erst wieder Mittel oder Material der Darstellung von Gefühlen und Gedanken. Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik. Eduard Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, 1854 : Untersuchen Sie die Auffassungen zur Musik und ihrer Rezeption in den beiden Zitaten und diskutieren Sie, wo Annäherungspunkte beste- hen bzw. die Gegensätze besonders ausgeprägt sind. : Diskutieren Sie die dargestellten Positionen unter der Fragestellung „Zeitgebundenheit oder Zeitlosigkeit?“ 08 basis epochen der musikgeschichte: im 19 . jahrhundert Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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