Begegnungen mit der Natur 8, Schulbuch

Die kulturelle Evolution des Menschen Die im Vergleich zu allen anderen Primaten lange Wachstumsperiode beim Men- schen hat auch die Phase der Betreuung der Nachkommenschaft durch die Eltern verlängert. Dies bringt mit sich, dass die Kinder von den Erfahrungen ihrer Vor­ fahren profitieren und diese wiederuman ihre Nachkommenweitergeben können. Die Überlieferung angesammeltenWissens über Generationen hinweg ( Tradition ) ist die Grundlage der Kultur. Die Sprache (in Wort und Schrift) dient dabei als Hilfsmittel der Überlieferung. Die Entwicklung und Weitergabe von Kulturgütern (Sprache, Religion, Ethik, Geistes- und Naturwissenschaften etc.) ist ein Artmerkmal des Menschen. Vor 10000 bis 15000 Jahren wurden die Menschen sesshaft Die bedeutendsten Stadien in der kulturellen Evolution des Menschen begannen vermutlich vor rund zwei Millionen Jahren mit Nomadinnen und Nomaden, die in der afrikanischen Savanne jagten und Nahrung sammelten, Werkzeuge herstellten, gemeinschaftliche Aktivitäten organisierten und Arbeitsteilung betrieben. Ein weiterer Sprung in der menschlichen Entwicklung geschah vor 10000 bis 15 000 Jahren, als die Menschen durch die Entwicklung der Land­ wirtschaft in Afrika, Eurasien und Amerika sesshaft wurden (erste dauerhafte Siedlungen und Städte). Für die Weiterentwicklung der menschlichen Kultur war im 18. Jahrhundert die Industrielle Revolution besonders bedeutend. Die kulturelle Evolution vollzieht sich schneller als die biologische Im Vergleich zu seiner biologischen Entwicklung vollzog und vollzieht sich die kulturelle Entwicklung des Menschen in rasantem Tempo. Voraussetzungen da- für sind das stark entwickelte Großhirn des Menschen, das ihn zum lebensläng­ lichen Lernen befähigt, die Fähigkeit des Kehlkopfes, Laute zu bilden (Sprach­ entwicklung) und die Greifhand mit dem opponierbaren Daumen, die die Herstellung und den Gebrauch von Werkzeugen ermöglicht. In der Zeit vom Jagen und Sammeln bis zur Industriegesellschaft haben wir uns allerdings biologisch nicht wesentlich verändert. Es wird angenommen, dass wir wahrscheinlich nicht intelligenter als unsere Vorfahren sind. Otto Koenig hat dieses Phänomen als „Steinzeitjäger im Straßenkreuzer“ bezeichnet. Unsere heutigen Fähigkeiten, wie zB Computer, Autos und Hochhäuser zu konst- ruieren oder Kunstwerke zu kreieren, sind nicht genetisch festgelegt, sondern das gesammelte Wissen von Hunderten von Generationen. In unserem biologischen Kern entsprechen wir also unseren frühen Vorfahren. Die mit unserem Wissen selbst geschaffene Verfremdung unserer Umwelt läuft unserer Natur, den in Millionen von Jahren entstandenen Anpassungsmustern, davon. Wir verändern unsere Umwelt schneller als wir (und andere rezente Arten) uns anpassen können. Waren die angeborenen Elemente menschlichen Ver­ haltens für den in Kleingruppen lebenden „Steinzeitjäger“ absolut überlebens- wichtig, kehren sie sich unter den geänderten Bedingungen unserer hochtech­ nisierten Gesellschaft gegen uns. Während unsere steinzeitlichen Vorfahren um die begrenzte Nahrung kämpfen mussten, findet unser Fresstrieb Nahrung im Überschuss vor. Aggression, ein naturgeschichtlicher Ballast Während Aggression früher ein Überlebensprinzip war, bedeutet sie für den modernen, in Massengesellschaften lebenden Menschen eine Gefahr – nach den österreichischen Verhaltensforschern Konrad Lorenz und Eibl-Eibesfeldt (siehe Band 6) sind unsere aggressiven Anlagen naturgeschichtlicher Ballast. Tradition tradere (lat.) = hinübergeben, traditio (lat.) = Übergabe, Auslieferung, Überlieferung bezeichnet die Weitergabe von Hand- lungsmustern bzw. angeeignetemWissen Kultur cultura (lat.) = Landbau, Pflege (des Körpers und des Geistes) Otto Koenig (1914–1992), österreichischer Verhaltens- forscher und Zoologe 119  Unsere Fertigkeiten und Fähigkeiten sind Ausdruck unserer Kultur. 118  Vor 10000 bis 15000 Jahren wurden die Menschen sesshaft. 117  Die sumerische Keilschrift gilt als älteste Schrift. 131 Die kulturelle Evolution des Menschen Nur zu Prüfzwecken – Eigentum des Verlags öbv

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